Und noch ein neuer Autor, herzlich Willkommen, Eren Akol! “Männer müssen lernen zu weinen” ist der Titel seines ersten Textes. Aber warum gibt es dieses Bild, das falsche Werte über Männlichkeit vermittelt? Eren hat das Weinen von Frauen gelernt und erlebt, wie befreiend es sein kann. Ein Plädoyer.
Jedes Kind wird von der Gesellschaft und nahestehenden Person wie der eigenen Familie mit Werten und Normen erzogen. Dabei kann das Kind nur schwierig unterscheiden, welche der beigebrachten Verhaltensweisen gut oder schlecht sind. Denn wonach soll sich das Kind richten? Die Familie bietet eine grobe Orientierung für das Kind, bevor es heranwächst und fähig ist, sein eigenes Verhalten zu reflektieren. So kann im späteren Alter besser differenziert werden, was gut oder schlecht für das eigene Selbst ist. In der Tat ist die Selbstreflexion ein essentielles Instrument, eigene Verhaltensweisen bewusster und kritischer wahrnehmen zu können. Wenn wir reflektieren, erfahren wir, ob wir in geschehenen Situationen für uns angemessen gehandelt haben oder nicht. Falls nicht, sind wir uns dessen bewusst und versuchen es beim nächsten Mal besser zu machen. Ein unabhängiges und selbstbestimmtes Verhalten erfordert auch, sich aus dem gesellschaftlichen Sog des Schamgefühls und der Ächtung zu entziehen. Erst wenn wir uns erfolgreich aus dem Sog gezogen haben, können wir uns innerlich und äußerlich öffnen.
Eine Öffnung, die allgegenwärtig ist und unbedingt aufgearbeitet werden muss, ist das tabuisierte Thema der Männerwelt: ‘Weinen’. Ich war lange genug davon überzeugt, dass Männer nicht weinen dürfen, dass es eine Form von Schwäche ist und wir Männer Stärke zeigen müssen. Doch mir ist aufgefallen, dass Stärke nicht mit Härte gleichzusetzen ist. Stärke bedeutet für mich unter anderem auch sanft zu mir selbst zu sein. Eine vorgelebte Fehlinterpretation vieler Männer hat mich eine lange Zeit gekostet zu akzeptieren und zu verstehen, dass alle Emotionen, darunter auch die Trauer, ihre Daseinsberechtigung in uns haben. Jede Emotion hat ihren eigenen Katalysator, um entladen zu werden. Wenn die Emotionen in uns festsitzen und nicht entladen werden, baut sich eine Spannung in uns auf, die unsere psychische und physische Gesundheit schädigt. Insbesondere bei der Emotion ‘Trauer’ müssen viele Männer darauf achten sie rauszulassen. Einer der wichtigsten Katalysatoren für das Empfinden von Trauer ist das Weinen. In dem Moment, in dem die Trauer wie eine unaufhaltbare Welle durch unseren Körper fließt, ist es wichtig, diese Welle nicht aufzuhalten, sondern mit ihr zu gehen und sie fließen zu lassen. Das Einzige, was die Welle aufhält, ist der Verstand und das Ego, welches sagt, dass man(n) stark bleiben soll. Doch das ist völliger Unsinn! Für das eigene Selbst einzustehen und sich nicht von der Ächtung anderer Männer beeinflussen zu lassen, zeugt von wahrer Stärke.
Wenn Männer unter sich sind, fällt es schwer, über die eigenen Gefühle zu sprechen und die eigene Verletzlichkeit zu zeigen. Als Kind oder Jugendlicher wurde man(n) als ‘Schwächling’ oder ‘Heulsuse’ bezeichnet, wenn man(n) nicht hart genug war. Keiner möchte als ‘schwach’ abgestempelt werden, deshalb wurden alle Trauergefühle, die das Weinen auslösten, vollständig blockiert. Ich habe nun oftmals miterleben müssen, dass es Männern schwerfällt, sich sogar gegenüber ihrer Freundin oder Frau emotional zu öffnen. Das liegt daran, dass die meisten nie gelernt haben, sich emotional zu öffnen. Männer wurden geprägt von ihren frühkindlichen Erfahrungen mit Emotionen. Wenn ein Mann also Trauer empfindet und mit den Tränen zu kämpfen hat, kommt der Widerstand gegen die Tränen von dem Verstand heraus, der einem sagt: ‘Du darfst jetzt nicht weinen, du musst stark bleiben. Wie wirkst du denn, wenn du jetzt weinst, du Schwächling? ’
Erneut sage ich, dass diese Gedanken völliger Unsinn sind! Die Gedanken kommen nur, weil männliche Personen in einer Welt aufgewachsen sind, in der falsche Werte über Männlichkeit vermittelt werden. Hier ist es wichtig, die Rolle des Vaters nicht außer Acht zu lassen, da er die nahestehendste männliche Person ist, an der sich ein kleiner Junge orientiert. Nun stelle ich die Frage: ´Hast du jemals deinen Vater weinen sehen? ´ Von unseren Vätern und anderen männlichen Bezugspersonen haben wir nicht gelernt, dass das Weinen ein Teil von uns ist, da in den älteren Generationen noch eine vollständig falsche Vorstellung von Emotionen existierte.
Auch wenn wir in einem Zeitalter sind, in dem die Geschlechterrollen zurecht hinterfragt werden, hängen uns die Vorstellungen der älteren Generationen noch im Kopf. Umso wichtiger ist es aufzuarbeiten und zu reflektieren, welches Bild wir von männlichen, weiblichen und diversen Menschen haben. Das Bild eines nicht weinenden und vermeintlich starken Mannes ist tief in der Männerwelt verankert. Es existiert bei vielen seit der Kindheit und es braucht eine lange Zeit, sich von diesen Vorstellungen zu lösen. Meinen Durchbruch habe ich erlangt, indem ich von Frauen gelernt habe, wie wichtig das Weinen ist, um Trauer los- und gehenlassen zu können. Ich habe durch sie in Erfahrung gebracht, was Emotionen für einen Stellenwert in unserem Leben haben. In den Frauenkreisen, in denen ich mich aufgehalten habe, wird das Weinen als nichts Schlimmes abgestempelt. Ganz im Gegenteil. Es wird sich gegenseitig mit Einfühlsamkeit unterstützt und darin bestärkt, es ‘fließen’ zu lassen. Und wenn eine Person geweint hat, konnte ich direkt danach die Erleichterung sehen und wie sich die Person sofort besser gefühlt hat. Ich erkannte, dass das Weinen vor anderen Personen viel Mut und Stärke erfordert, da es den tiefen inneren Zustand nach Außen in die Welt zeigt. Für mich wusste ich, dass ich zunächst einen safe space benötige, um diesen Prozess anzugehen. Jeder definiert seinen eigenen safe space, einen Ort oder Raum, an dem jeder Mensch so sein kann, wie er möchte, anders. Das bedeutet, dass der safe space beispielsweise das Zimmer vom besten Freund mit dem besten Freund sein kann oder in meinem Fall nur aus mir und meinem Zimmer. An einem Tag, wo ich viel Trauer empfand, setzte ich mich auf den Boden und versuchte mich mit geschlossenen Augen in die Trauer hineinzufühlen. Musik, die ich persönlich als emotional empfand, half mir dabei, mich mehr hineinzufühlen. Ich merkte, wie eine Welle durch meinen Körper und bis hoch zu meinem Kopf floß. Normalerweise kam dann der Moment, in dem ich die Welle, die raus gehen möchte, blockierte. Doch dieses Mal sagte ich meiner inneren Stimme, dass es nötig und befreiend ist zu weinen und als ich diese Aussage vollständig akzeptiert hatte, begann ich seit Jahren wieder zu weinen.
Es ist also ein Prozess, der sich lohnt, der erlösend wirkt und für den ich persönlich dankbar bin. Deshalb müssen Männer lernen zu weinen!