Eine Reise durch die Zeit

2017_03_06
(c) M Reza Faisal:  If Grass was a Girl  (CC BY-NC-ND 2.0)

Unsere neue Autorin Lilith steigt mit einer furiosen Zeitreise in meinTestgelände ein. Sie versetzt sich 100 Jahre zurück in der Zeit und beschreibt, wie es Mädchen und jungen Frauen damals ergangen ist: welche Bildung konnten sie bekommen? Wie frei waren sie zu entscheiden, wie sie leben wollten? Und was bedeutet das für die Gegenwart und das Gefühl, heute Mädchen zu sein? Eine spannende Zeitreise in das Leben von Mädchen.

Ich trete einen Schritt aus der Umkleide heraus und betrachte mich im Spiegel. Der Rock, den ich trage ist weit, an einigen Stellen leicht verschmutzt, an anderer etwas zu faltig. Die Bluse ist im langweiligen Grau gehalten, die Schürze schon nicht mehr ganz so eng, wie noch in der Mode von vor einigen Jahren- nach Farben, die nicht weiß, schwarz oder grau heißen, lässt sich jedoch vergeblich suchen.

So würde ich auf die Straßen gehen, wenn ich hundert Jahre früher geboren wäre. 1899. Das Jahr 1916. Auch dann wäre ich 16 Jahre alt gewesen – genau wie jetzt. Doch ansonsten hätte mein Leben nichts mit meinem heutigen gemein. Krieg war der diese Zeit bestimmende Begriff. Ich hätte nach der Schule arbeiten müssen, je nachdem in welche Familie ich hineingeboren wäre, hätte ich gar nicht einmal eine Schule besucht. Auch die Aussicht auf eine Universität zählte nicht gerade zu den Normalvorstellungen der meisten Mädchen. Ab 1900 begannen zwar die ersten Frauen, sich an Universitäten einzuschreiben, aber selbst 1916 waren sie nur vereinzelt in Unis zu finden. Ein merklicher Anteil an Frauen in Studiengängen konnte sogar erst nach dem zweiten Weltkrieg gemessen werden– aber in diese Zeiten dringen wir erst später vor. Bleiben wir erst einmal im Jahr 2016.

Nach der Schule als junge Dame arbeiten. Vermutlich irgendwo in der Rüstungsindustrie. Monotone Hilfsaufgaben. Für fast alle Frauen die nicht zum Adel zählten, gehörte das zum Alltag. Somit würde auch ich vermutlich bereits vor ein paar Jahren mit einer solchen Arbeit begonnen haben. Spätestens seit Beginn des Krieges. Ohne richtige Schulbildung musste man nicht nur schon früh im eigenen Haushalt helfen, sondern meist auch mehrere Kilometer hin und zurück zu irgendeiner Schmuckfabrik, oder einem Rüstungsbetrieb laufen. Nicht selten waren die Arbeiterinnen dafür drei bis fünf Stunden alleine für eine Strecke unterwegs. Bei ganz viel Pech, oder vielleicht auch Glück, würde ich im Alter von 14 bereits an eine andere Familie verkauft worden sein, um dort zu dienen und den ganzen Tag die Kinder und Tiere zu versorgen, sowie das Haus in Stand zu halten.

Doch auch, wenn meine Eltern sich nicht dazu entschlossen hätten, mich zu verkaufen, musste meine Situation zu Hause nicht zwingend besser aussehen. Laut statistischem Durchschnitt warten dort vier Geschwister auf mich, denn die Geburtenrate lag damals mit 5 Kindern/Frau deutlich höher als die heutigen 1,4. Doch dafür starben unter 1000 Kindern auch 160 während diese Zahl heutzutage auf drei Stück stark gesunken ist. Ich habe momentan also eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit zu sterben – wobei man sagen kann, dass die meisten mit 16 das kritischste Alter bereits überschritten hatten. Meine Hilfe ist durch die hohe Geburtenrate aber umso wichtiger, da meine Mutter regelmäßig aufgrund ihrer Schwangerschaft ausfällt. Und selbst wenn ich eine der jüngeren Geschwister wäre, hätte ich bereits ab dem siebten Lebensjahr so einige Aufgaben übernehmen müssen – denn dann wäre meine ältere Schwester vielleicht selbst schon in einer anderen Familie tätig, oder sie wäre selbst bereits schwanger. Doch wenn man glaubt, dass diese Zeiten heute, im Jahr 2016, schon lange überwunden seien, so ist Vorsicht geboten. Denn weltweit sterben jährlich immer noch 1,5 Mio. weibliche Säuglinge und Kleinkinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahres- und dabei ist die Dunkelziffer noch zusätzlich hoch. Aber lasst uns wieder ins Jahr 1916 zurückkehren.

Die Mehrfachbelastung, der ich momentan standhalten muss, ist für diese Zeit vollkommen selbstverständlich. Meine Pflichten im Haushalt sind sogar durch ein Gesetz festgeschrieben. Denn bis noch vor 40 Jahren war die Frau gesetzlich zur „Führung des Haushaltes“ verpflichtet. Sie durfte nur einen zusätzlichen Beruf ausüben, wenn sie dadurch ihre Haushaltspflichten nicht vernachlässigte. Ansonsten konnte ihr Ehemann ihre Arbeitsstelle in ihrem Namen kündigen und sie somit zwingen, zu Hause zu bleiben – ohne diese Maßnahme überhaupt mit ihr abgesprochen zu haben. Dieser Artikel wurde erst 1977 entfernt.

Wenn wir doch schon einmal bei den Gesetzen sind, schauen wir uns direkt meine Möglichkeiten zur politischen Mitsprache an – die aktuell wirklich gegen 0 laufen. Momentan darf weder meine Mutter wählen, noch habe ich Aussichten darauf, wenn ich 18 werde, wählen gehen zu dürfen, so wie das in meinem wirklichen Leben der Fall ist. Von den wirklichen Geschehnissen an der Front bekomme ich zudem wie die meisten Menschen innerhalb Deutschlands überhaupt nichts mit und kann wenn dann lediglich die Briefe meines Vaters oder meines älteren Bruders lesen, von denen alles Wahre jedoch bereits von den Kontrollstellen ausraddiert wurde, bevor die Nachrichten in meine Hände fallen – daher auch die Pflicht mit Bleistift zu schreiben. Aber auch trotz Bleistift ist es nicht gerade unauffällig, wenn jeder zweite Satz ein sinnfreier Halbsatz ist, der nirgendwo endet.

Viel mehr bekommen jedoch auch die Männer an der Front nicht von den Geschehnissen von zu Hause mit, wo sich gerade einiges im Bereich meiner Rechte als Mädchen verändert. Denn der Krieg stellt zwar gerade für Mädchen und Frauen wie mich eine riesige Belastung dar, auf der anderen Seite dienen die harten Jahre aber auch als Sprungbrett in eine neue Ära der Frauenrechte. Für 89 Mio. Soldaten und 7,8 Mio. Zivilisten wird der erste Weltkrieg den Tod bedeuten. Alleine in Deutschland werden es 2 Mio. Soldaten sein, die von den Schlachtfeldern nicht mehr zurückkehren werden. Und gerade jetzt während des Krieges fehlen noch einmal deutlich mehr Männer an ihrem eigentlichen Arbeitsplatz zu Hause. Ein großer Teil der männlichen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter ist bis 1916 für den Kriegsdienst eingezogen – daher auch zu erklären, dass ich neben der Heimarbeit zusätzlich arbeiten gehen muss. Nicht nur ich, sondern allgemein werden Immer mehr Frauen beschäftigt, neben den bereits erwähnten Rüstungsbetrieben auch in der Landwirtschaft und als Männerersatz als Lockführerinnen- und das hat nicht nur negative Effekte. Natürlich leiden wir in erster Linie unter den harten Tagen und den vielen Arbeitsstunden. Die dabei aufkommende Belastung vermag man sich hundert Jahre später kaum mehr vorzustellen. Noch einmal zusammengefasst: Ich muss mich um meine Geschwister kümmern, arbeiten gehen, um verstorbene Verwandte trauern oder um das Leben derer bangen, die noch an der Front kämpften. Ich sehe meinen Geschwistern zu, wie sie an Krankheiten oder Hunger sterben und versuche durch stundenlanges Warten doch noch an irgendetwas Essbares heranzukommen. Zu allem Überfluss ruft er Kaiser, Wilhelm II, noch dazu auf, dass Frauen mehr Kinder bekommen sollen, um die Toten an der Front auszugleichen – nicht gerade einfach das Ganze auch noch schwanger mitzumachen, im Anschluss ein paar Kinder mehr zu versorgen und bei allem auch noch seinem weit entfernt stationierten Mann treu zu bleiben. Aber dennoch hatte es nicht nur negative Folgen, dass man auf einmal Frauen als Straßenbahnführerinnen und vermehrt Frauen in Fabriken sehen konnte. Denn unter anderem diesen Tatsachen habe ich es zu verdanken, dass ich eine der ersten sein werde, die zu den Wahlen gehen kann. 1918 werden diese schließlich nach jahrelangem Kampf vieler Frauen eingeführt. Und auch wenn es heute noch weniger als 100 Jahre zurück liegt, war Deutschland im europäischen Vergleich doch eines der ersten Länder, die dies erreichten. Finnland war bereits im Jahr 1906 so weit fortgeschritten, Luxembourg auf der anderen Seite brauchte hingegen bis ins Jahr 1984, um sich dazu durchzuringen, endlich auch die Frauen zu den Wahlurnen zu lassen. Und nicht nur das haben wir dem ersten Weltkrieg zu verdanken. Auch das Tragen der Hosen etablierte sich allmählich. Einen erheblichen Beitrat trugen hierzu die Arbeitsuniformen bei, die von Frauen in einigen während des Krieges übernommenen Berufen ohnehin getragen werden mussten.

Springen wir nun aber einmal zu einem anderen Thema – Hochzeit. Wenn die gleichaltrigen starken und attraktiven Männer an der Front sind, wird es schwierig, den Traumprinzen zu finden – aber solche Fantasien dürfen sich Mädchen wie ich ohnehin nicht leisten. Denn die Liebe ist 1916 auch in Deutschland noch alles andere als frei. Selbst wenn wir davon absehen, dass es zu diesen kritischen Zeiten sehr wahrscheinlich ist, dass der Junge, mit dem du dich immer so nett unterhältst und der dir immer so süß zulächelt, ein paar Monate später mit einer Kugel in der Brust auf einem Schlachtfeld liegen wird, gibt es noch einige weitere Hürden zu bewältigen. Ich als Mädchen darf mir keinesfalls selbst aussuchen, wem ich länger als nötig hinterherschaue. Dabei wäre das 1916 nicht einmal nur vom Aussehen und dem Charakter abhängig gewesen, sondern hätte auch eng mit der Namensgebung in Verbindung gestanden. Denn noch bis 1976 wurde bei einer Hochzeit automatisch der Familienname des Mannes übernommen. Wenn man sich nicht einigen konnte, galt das sogar noch bis 1991, falls man sich nicht dazu entschied, einen Doppelnamen anzunehmen. Erst seit 1991 ist es erlaubt, als Ehepaar die beiden unterschiedlichen Nachnamen zu behalten. Das heißt, dass frühestens mein Enkelkind, mindestens aber mein Urenkelkind als erste in meiner Familie davon Gebrauch machen könnte. In Städten nutzt diese Freiheit inzwischen etwa jedes fünfte Ehepaar.

Nicht selbst entschieden, welcher Mann das Ehebett teilt, kann auch damit gerechnet werden, dass es zu Hause bei mir auch falls ich einmal heiraten sollte, nicht ausschließlich friedlich zugehen wird – und das ist auch 100 Jahre später noch der Fall, auch wenn sich in der Zwischenzeit so einiges getan hat. Das Gewaltschutzrecht aus dem Jahr 2001 schreibt vor, dass Männer, die ihre Ehefrauen schlagen, ein vorläufiges Hausverbot erteilt bekommen, und die Frau ein Recht darauf hat, in der Wohnung zu bleiben. Dennoch erfährt noch heute jede dritte Frau häusliche Gewalt. Bereits etwas früher wurde die sexuelle Belästigung gesondert geregelt. Bis 1997 galt als Vergewaltigung lediglich ein außerehelich erzwungener Geschlechtsverkehr – der eigene Mann konnte mit seiner Frau also tun und lassen, was er wollte. Erst seit diesem Jahr kann eine Frau auch ihren Mann aufgrund von Vergewaltigungsvorwürfen vor Gericht ziehen. Für mich würde das viel zu spät sein.

Ebenfalls bis vor 1977 galten Frauen als schuldig und ihr Verhalten wurde als „böswillig“ angesehen, wenn sie ihren Mann verließen, (auch z.B. weil er sie betrog oder schlug). Wenn ich mich nun also von meinem Mann loslösen möchte, weil er mich jeden Abend betrunken verprügelt, werde ich als „Schuldige“ angesehen, erhalte keinen Unterhalt und stehe somit vor dem finanziellen Nichts. Zudem habe ich keine Chance auf das Sorgerecht meiner Kinder. Ich werde also in einer brenzligen Situation stehen, wenn ich nicht ganz viel Glück mit meinem Mann haben werde. Denn dann muss auch ich die Misshandlungen eines Mannes über mich ergehen lassen, wenn ich nicht riskieren möchte, meine Kinder im Anschluss nie wieder zu Gesicht zu bekommen. Schreckliche Vorstellung.

Mühsam schäle ich mich nun wieder aus den Klamotten heraus, die ich mir vorhin in mehreren Lagen übergezogen habe und betrachte mich erneut im Spiegel. Draußen hat es 30 Grad. Ich trage eine kurze Jeans und ein Top. Viel freier komme ich mir endlich wieder vor und die bunten Farben stechen im Gegensatz zu den grau-weiß-schwarzen Stoffen umso mehr hervor. Wie fröhlich es auf einmal wirkt. In einem Jahr bin ich 18 und darf zur Wahl gehen, falls ich irgendwann einmal den passenden Mann finden werde, kann ich ganz beruhigt mit ihm darüber reden, ob wir vielleicht heiraten möchten und auch in meiner Berufswahl stehen mir alle Türen offen – aber: so ganz ideal ist auch heute die Situation noch nicht, auch wenn es einem im Vergleich zu der Zeit vor 100 Jahren nahezu paradiesisch vorkommt. Weniger Lohn, weniger Frauen in der Politik sowie in Führungspositionen, durchschnittlich noch über 87 % des Haushaltes von weiblichen Familienmitgliedern geführt – Was werden da wohl die Menschen in 100 Jahren von uns denken? Vielleicht sind wir in ihren Augen dann genauso erschreckend, wie uns heute die Gesellschaft von vor 100 Jahren vorkommt? Es wäre einfach zu schön, in die Zukunft reisen zu können!

 

Mehr dazu: 

1999 geboren in Heppenheim, aufgewachsen in Hessen und Baden-Württemberg und inzwischen wohnhaft in Dresden. Deutschland habe ich inzwischen durch viele Hobbies im Bereich Musik, Sport, Poetry Slam und Wissenschaft recht gut kennengelernt, doch noch spannender als die regionalen Reisen sind die vielen Begegnungen und Erlebnisse, die ich dabei gesammelt habe. Mein Testgelände ist eine super Sache, um festzuhalten, was mich auf meinen Reisen bewegt, einige der Personen mit ihren spannenden Geschichten vorzustellen und euch Teil von Recherchen werden zu lassen, die mich brennend interessieren. Hier kann sich jeder trauen, das zu schreiben, was ihn bedrückt. Und somit: Viel Spaß beim Lesen, Hören und Schreiben!