#wosindqueer - eine proklamation

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daniel james via Unsplash

Wir freuen uns heute über einen Text von Sven Hensel! In #wosindqueer schreibt er über Queerfeindlichkeit, die ihm schon begegnete, als Sexualität noch gar keine Rolle in seinem Leben spielte. Er schreibt über die Macht der Worte und darüber, wieso es eine Rolle spielt, wer welche Begriffe benutzt — und mit welcher Intention. Er schreibt über Ermächtigung und über Solidarität. Und ihr solltet all das unbedingt lesen! 🏳️‍🌈🏳️‍🌈🏳️‍🌈 [CN: Gay Slurs, queerfeindliche Gewalt]

Ich bin eine Schwuchtel, eine Tunte, ein Trine,
ein Arschficker, eine perverse Sau, eine Schlampe, ein Sünder.
Ich bin tuckig, zickig, emotional, irrational, weibisch.
Ich lasse mich in den Arsch ficken, ich lutsche Schwänze, ich schlucke Sperma. 

Hi, ich bin Sven.
Es gab viele Jahre in meinem Leben, in denen diese Worte und Sätze mir,
sobald sie in Verbindung mit mir Erwähnung fanden, es kalt den Rücken haben runterlaufen lassen. Fremdzuschreibungen, von denen ich die meisten, wenn nicht alle, in ihrer Gewalt schon hörte,
noch bevor mein Alter zweistellig war. Es waren Worte, um mich und mein Sein zu devaluieren,
lange bevor Sex oder Sexualität für mich auch nur irgendeine Gewichtung hatte.
So wurde auch von Gleichaltrigen nie mein vermeintliches sexuelles Verhalten damit kommentiert, sondern war die Intention, mich ob meiner Andersartigkeit zu beleidigen. So wurde ich mir auch meiner selbst erst gewahr, indem Andere mich mir – wenn auch in einem, milde gesagt, unfreundlichem Ton – kommunizierten.

Ich wurde nicht homosexuell geboren. Versteht mich nicht miss, meine Queerness ist mir inhärent, ob sozial, biologisch, oder ob meine Seele vor Geburt in einen Topf voll mit Gay gefallen ist: das ist meine Natur, mein Wesen, mein Sein, dem diese Namen gegeben wurden.

Lediglich die Bezeichnung dafür, nicht mehr Dinge und Handlungen auszuführen, sondern jene Personen, die ihnen nachgehen oder Wunsch danach äußern, ist eine unnatürliche. Wir wurden irgendwann zu Homosexuellen gemacht, man hat nicht mehr Handlungen benannt, sondern diejenigen, die sie ausführen.

So nütze Menschen, in ihrer staatsgezüchteten Binarität, wo es nur die Geschlechter Brutstätte und Munition gibt, unsere Queerness so viel wie dem Getriebe der Sand. 

Sie wurde wegverpseudowissenschaftlicht, wir wurden aus der Geschichte verbrannt, es wurden viele Brüche der Farben im Geschlechtsspektrum wegrationalisiert und wegkolonialisiert. Mir wurde ein Teil meines Menschseins genommen, politisiert und niedergemacht, weil dieser signifikante Teil zu viel Gefahr darstellt für eine meiner Ansicht nach abhorrende „Normalität“. Mir und vielen anderen ist seit jeher eine Kultur auferzogen worden, in der Leute ihre Erfahrungen nicht in sicheren Umgebungen machen können. Es ist ein Tabu, wenn man die Arschkarte gezogen hat. Und wenn Leute Dinge nicht sagen oder machen dürfen, dann finden Kinder es irre witzig, andere Kinder damit zu beleidigen. Jungsein ist Grenzüberschreitung und -findung, besonders sprachlich. Wenn es doch nur öfter so witzig und kokett wäre, immer lauter „Penis“ zu rufen, ohne, dass es der Lehrkraft auffällt. Unsere Sprache hat Einfluss auf unsere Realität. Es wundert mich nicht, dass es als Gefickter Scham zu überwinden gilt, wenn wir was anderes meinen mit „du bist voll gefickt“ als was „du bist voll der Ficker“ aussagt. 

Ich bin eine Schwuchtel, eine Tucke, eine Tunte-
Wie mächtig ich mich deshalb fühle. Manche dieser Worte sind mir mittlerweile sakral,
ich kann und darf mich ihrer Bedienen, um mich meiner Umwelt zu kommunizieren.
Tunten sind Revolutio-Närrinnen, Schwuchteln sind Helden,
Arschficker sind ein Segen und Arschgefickte sind Musen.
Gesegnet sind wir Niederträchtigen, die nicht-konformen Schwuchteln, 
die vereinigten Tunten aller Länder und Geschlechter,
die sich nicht zufrieden geben mit einer Assimilation unserer Identität.
Die alles sagen, alles bewegen, alles tun, aber nicht glauben, dass mit der „Ehe für Alle“ (und ganz ehrlich, so wie sie ist, ist auch der Name zu überdenken) alles geschafft wäre, geschweige denn überhaupt ein Schritt in die richtige Richtung.
Ich kann mich ihrer Bedienen, denn in der Rückeroberung der Sprache, die mich beschreibt, liegt Heilung. Heilung, die notwendig war, weil diese Sprache, diese Kultur, einen Menschen wie mir Schaden zugefügt hat. 

Ich selbst wurde vor kurzem auf dem Weg zu einer Veranstaltung das erste Mal seit langem queerfeindlich angegriffen. Der Austausch begann, als wir zu dritt von einer Meile entfernt unsere Queerness in die Hemisphäre ausstrahlten, durch nichts weiter als authentisches Existieren. Es kamen Würgegeräusche von der Seite, als müsste jemand erbrechen. 

Und wir wurden nicht wie gewöhnliche Schwuchteln bezeichnet, sondern so, wie Hagrid es dereinst in Harry Potter und ein Stein gesagt hat: SchwuchtEEEEEEeeeeln. Ich, bestätigt in der Kommunikation meiner Geschlechtsexpression in die Außenwelt reagierte auf diesen Kommentar mit der Frage, ob er da was ausprobieren wollte, und weil ich mutig bin, habe ich ihn auch Baby genannt, weil aus irgendwelchen seltsamen Verbindungen in meinem Gehirn, leider die Aggressoren in meinem Leben oftmals phänotypisch nicht weit entfernt sind von den Männern, die ich begehre.

Wir gingen lachend weiter, unterhielten uns darüber, dass die Würgegeräusche bei einem echten ersten Oralverkehrgehversuch wahrscheinlich aufkommen würden, weil der Aggressor wie ein Noob in Sachen Oral klang. Als wir außerhalb der Reichweite von Kameras, aber noch immer umgeben von Menschen waren, an einer Hauptstraße einer Großstadt, tritt einer der Prolls einem von uns in den Rücken. Um uns herum waren Leute, aber niemand ist eingeschritten – zum Glück trug der Betroffene einen Rucksack, zum Glück trug ich Crocks, zum Glück hat unser Adrenalin uns weder zur Flucht noch zum Kampf angehalten, sondern nur kurz den Blutdruck hochgetrieben, sonst wäre das ganze eventuell krawalliger ausgegangen. Wir konnten die Typen, die uns verfolgten, dank einer Ampelschaltung abhängen, aber der Blutdruck senkte sich nur langsam, und das Gefühl, dass da was wirklich Unschönes passiert ist, hielt für uns noch Tage bestand. Ein*e Freund*in sagte, es wären drei gewesen, ich kann mich nur an zwei erinnern, die uns hinterher sind, das Adrenalin hat mir vielleicht auch meine Erinnerung verwolkt. Ich habe das Gefühl, noch als priviligierteste*r Betroffene*r aus dieser Begegnung herausgegangen zu sein, denn wo meinen Freund*innen das ganze doch noch näher ging, fühlte ich mich stark, wenn es nur aus dem Wissen resultiert, dass es mich stolz macht, eine Schwuchtel zu sein.  

Der Stolz kam nicht von Mundbekenntnissen irgendwelcher Parteien, die mich nicht viel mehr als demographisch abgrenzbares Wählvieh wahrnehmen. Der Stolz kommt auch nicht durch Übergriffigkeiten, Gewalt und Beleidigungen von (in der Regel) endo-cis-Männern. Dieser Stolz kommt von Reflexion, durch Vorbilder, durch Sichtbarkeit und Bandenbildung. Und diesen Stolz lasse ich mir von keinem Wort der Welt mehr nehmen. 

Wir brauchen aktive Veränderungen in unseren Strukturen, wir brauchen mehr Repräsentanten, -onkel und geschwister unserer Eltern auf den Straßen und in den Gremien. Wir brauchen queere Geschichten von queeren Autor*innen, die von queeren Filmemacher*innen und Schauspieler*innen gespielt werden, erzählt von unserer Freude, unserem Schmerz, unserer Liebe, unserem Begehren, unserer Langeweile, aber hört auf, „Disneys erster Gay-Charakter!“ durch die Medien zu zelebrieren, wenn es am Ende doch nur wieder Promo für eine „blink-and-you-miss-it“-Szene und damit absoluter cash grab ist.

Das oberste Ziel war nie Anpassung, sondern zu Leben und zu überleben. Für mich, wie für viele Queers, noch vor und auch nach mir. Mit meinen Tun kann ich es nicht für alle Queers, die folgen, allein ändern. Aber ich kann es gemeinsam mit der Community, den Communities, den selbstgewählten Familien und den Blutsfamilien, die einen blühen lassen, im Sinne derer, die es nicht mehr können, die es nie durften. 

#wosindqueer? „Queer“ sind am Überleben, im Großen und im Kleinen, jeden Tag.
Das klingt dramatisch, aber 1. Ich bin gay und liebe Drama und 2. ist es möglicherweise sogar noch eine Untertreibung. Sorgt mit uns dafür, dass wir nicht mehr nur an unser Überleben, sondern auch ans Leben denken können. 

Mehr dazu:

Ich heiße Sven Hensel, bin 95er Jahrgang, und (laut Trivial Pursuit) genauso groß wie der bundesdeutsche Durchschnitt. Ich trete seit 2014 bei Poetry Slams auf und arbeite im queeren Jugendzentrum Sunrise in Dortmund. Für mich ist es wichtig, die Selbstverständlichkeit von Queerness vorzuleben, sowohl im Alltag als auch auf der im Beruf, und diesen Fokus findet man auch in meinen Texten wieder. Viel Spaß beim durchscrollen!