Kurzgeschichte: Das rote Kleid

Aleyna liebt ihre Mutter über alles. Doch manchmal kann die Frau, die ihr das Leben schenkte, nicht das geben was sie braucht. Zum Glück gibt es neben der Familie noch andere Menschen, die der jungen Frau Halt geben…

Aus Angst wächst Mut. Herausgeber: Gandhi Chahine und Matthias Hoof.

Ich habe mein rotes Kleid angezogen. Es ist lang und hat einen Meerjungfrauenschnitt. Der Stoff besteht aus feiner Seide. Sie fühlt sich glatt und kalt auf meiner Haut an. Dieses wunderbare Kleid wurde extra für mich nach Maß geschneidert. Heute trage ich es für einen bestimmten Menschen. Jemand, der mir sehr nahe steht. Dieser Jemand hat mir versprochen, heute zu kommen. Ja, sie wird heute kommen. Ganz bestimmt! Ich bin so aufgeregt. Wie lange habe ich auf diesen Tag gewartet. Jetzt ist er da. Heute wird sie verstehen, weshalb ich in den letzten Wochen so oft unterwegs war. Heute wird sie mit eigenen Augen sehen, wofür ich jeden Tag geprobt habe. Ich bin mir ganz sicher: Sie wird stolz auf mich sein. Sie wird mit den anderen klatschen und mich voller Bewunderung anlächeln. Und ich werde zurücklächeln, voller Dankbarkeit und Liebe.

„Du bist dran, gib dein Bestes.“ Die Aufforderung reißt mich aus meinen Träumen. Ja, ich bin jetzt bereit für meinen großen Auftritt. Mit den anderen verlasse ich die Requisite und will mich auf den Weg zur Bühne machen. „Dein Handy klingelt“, sagt meine Freundin. Komisch, ich habe es gar nicht gehört. „Willst Du noch rangehen? Könnte wichtig sein. Wir warten dann auf dich.“ Ich drehe mich um, gehe zu meiner Tasche und hole das Handy heraus. Auf dem beleuchteten Display lese ich ihren Namen. Und sofort beschleicht mich diese traurige Gewissheit. Sie wird heute nicht kommen. Wieder nicht. Sie sagt, sie schafft es nicht. Sie hat so viel zu tun. Ich soll ihr nicht böse sein. Schweigend höre ich zu. Kein einziges Wort bringe ich heraus. Der Klos in meinem Hals fühlt sich hart und schwer an. Ich versuche ihn herunterzuschlucken. Vergeblich. Bevor sie etwas von meiner Enttäuschung spürt, habe ich schon aufgelegt.
Mechanisch lasse ich meinen Arm mit dem Handy sinken, lasse es zurück in meine Tasche gleiten. Mein Blick ist mit einem mal ganz glasig. Nein, nur jetzt nicht weinen, nur das nicht! Denk an deinen Auftritt! Aber es ist schon zu spät. Die ersten salzigen Tropfen fließen über meine Wangen. Ich kann sie nicht mehr stoppen. Hemmungslos lasse ich den Tränen freien Lauf. Eine nach der anderen läuft mir die Wange hinab. Mit verschwommenem Blick schaue ich in den Spiegel und versuche, die Tränenflut zu stoppen. Ein verzweifelter Versuch zu verhindern, dass der Mascara verläuft. Mit Mühe kann ich verhindern, dass die Tränen auf das schöne rote Kleid tropfen.
Ich fühle innerlich den Schmerz. Diese ganze Traurigkeit und die Ohnmacht, die Enttäuschung und auch den Ärger. Diese Hoffnungslosigkeit raubt mir für einen Moment alle Kraft. Meine Gefühle fahren gerade Achterbahn. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Und das so kurz vor dem entscheidenden Auftritt.

Sie ist die wichtigste Person in meinem Leben. Sie ist der Mensch, der mir das Leben geschenkt hat, der mich auf diese Welt gebracht hat. Ein Engel in meinen Augen. Und sie trägt den schönsten Namen, den es auf dieser Erde gibt: ,,Mama“. Wie oft habe ich dieses Wort ausgesprochen, als ich voller Liebe und Bewunderung zu ihr aufgeschaut habe. Wie oft habe ich nach ihr gerufen, als ich ihre Nähe brauchte. Sie war immer für mich da. Hat mich getröstet, ermutigt, unterstützt. Und heute, wo ich ihr etwas davon zurückgeben wollte von dieser Liebe, da hat sie keine Zeit.

Meine Freundin schaut vorsichtig zur Tür herein. Sie blickt mich an und weiß sofort Bescheid. „Du müsstest jetzt eigentlich raus auf die Bühne“, sagt sie. „Aber das geht wohl im Moment nicht.“ Ich nicke ihr nur stumm und schniefend zu. „Jetzt kommen die anderen schon zurück, vielleicht gehst du besser woanders hin.“ Ich laufe mit gesenktem Blick in einen leer stehenden Raum, setzte mich auf den Boden und lehne mich mit dem Rücken an die Wand. Immer noch strömen die Tränen meine Wangen hinab. Ich muss jetzt meine Fassung zurückgewinnen, rede ich mir ein. Mit größter Anstrengung gelingt es mir endlich, mich auf die nächste Szene einzustellen. Schwerfällig stehe ich auf und sehe einen Spiegel in der Ecke des Raumes. Mir graut vor dem, was ich da gleich sehen werde. Trotzdem gehe ich entschlossen auf den Spiegel zu. Etwa einen Meter davor bleibe ich stehen und schüttelte fassungslos mit dem Kopf. Bin das wirklich ich, die mich da aus verheulten Augen anschaut? Das ganze Make-up ist vollkommen ruiniert, der Mascara natürlich verlaufen. Zum Glück ist nur ein kleiner Wasserfleck auf dem roten Kleid gelandet. Das wird man im Zuschauerraum nicht sehen. Aber ich habe nicht mehr viel Zeit bis zum großen Auftritt, um mein Gesicht zu trocknen und mich neu zu schminken. Sie ist immer noch in meinem Kopf. Aber jetzt sind es nicht mehr Trauer und Enttäuschung, die ihr Bild in mir hervorrufen. Es ist vielmehr eine merkwürdige Entschlossenheit, fast schon ein wenig Trotz.
Während ich den Mascara nachziehe und meine Wangen pudere, höre ich Schritte auf dem Gang. Eine Stimme ruft meinen Namen. Plötzlich öffnet sich die Tür.
Dann steht er vor mir, schaut mich kopfschüttelnd an, sagt kein einziges Wort. Er kennt mich. Er weiß genau, was los ist. Der Leiter der Theatergruppe blickt mich prüfend an, so als wollte er mich fragen: Wird das noch was heute? Ich senke meine Augen zu Boden und versuche dann, mit einem Lächeln wieder aufzuschauen. Aber so ganz gelingt mir dies nicht. Er nimmt mich an die Hand, versucht mir Mut zu machen. „Komm, du schaffst das“, sagt er, „wir brauchen dich!“ Seine ruhige und besonnene Art, seine Worte tun mir gut. Er nimmt mich mit zu den anderen, die schon auf mich warten. Meine Freundin bringt mir Tücher, etwas Creme und ihre Schminke. Mit ihrer Unterstützung kann ich mein Make-up wieder auffrischen. Ich streiche noch einmal mit der Hand über die kleinen Falten an meinem roten Kleid und überprüfe, ob es richtig sitzt.
Obwohl ihre Worte am Telefon eindeutig waren, bleibt noch ein Funken Hoffnung. Vielleicht will sie mich einfach nur überraschen. Erst absagen und dann doch kommen.
Wieder fühle ich innerlich diesen Schmerz und die Hoffnungslosigkeit. Wieder fangen sie an, mir alle Kraft raubten.

Wieso versteht sie nicht, wie wichtig mir die Schauspielerei ist? Es ist nicht nur ein Hobby, es bedeutet mir viel mehr. Wenn ich auf der Bühne stehe und meine Rolle spiele, dann ist das pure Leidenschaft. Wieviel Zeit und Liebe habe ich in dieses Stück, in diese Rolle investiert!

Jetzt ist es wirklich so weit. Ich muss nun raus auf die Bühne. Ein letzter Blick in den Spiegel, dann setzte einen Schritt nach hinten und drehe mich entschlossen um. Der Leiter gibt mir das Zeichen, dass ich nun hinausgehen soll.
Da stehe ich nun auf der Bühne. Im Dunkeln sehe ich die Lichter im Publikum. Wahrscheinlich kommen sie von den Kameras und Handys im Saal. Plötzlich geht das Licht an, ich versuchte, mich jetzt ganz auf meine Rolle zu konzentrieren. Ich spiele sie voller Elan und Leidenschaft. Und wieder ist es diese erstaunliche Erfahrung: Auf der Bühne vergesse ich eine Zeitlang all mein Leid und meine Sorgen. Und trotzdem schaue ich immer wieder voller Hoffnung zur Eingangstür am hinteren Eingang des Saales. Das Stück neigt sich dem Ende zu. Zum Schluss verbeugen wir uns vor dem applaudierenden Publikum. Dann verlassen wir gemeinsam die Bühne und gehen der Reihe nach wieder hinein. Noch immer sind das Jubeln und der Applaus des Publikums ungebrochen. Ich fühle mich stolz und etwas erleichtert. Der Regisseur klopft mir sanft auf die Schulter. Er lobt mich für diesen erfolgreichen Auftritt. Und dann sagt er diesen Satz, der mir über die Enttäuschung und den Schmerz hinweghilft: „Sei nicht traurig, meine Liebe, dass Deine Mutter nicht gekommen ist. Vielleicht beim nächsten Mal. Aber eins sollst Du wissen: Unsere Theatergruppe, das ist auch deine Familie.“

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