Kleidergröße, Gewicht, BMI: An diesen Zahlen wird bemessen, ob ein Körper der Norm entspricht, oder nicht. Das eigene Körperbild, die Eigen-und Fremdwahrnehmung in der heutigen medial geprägten Welt. Warum der weibliche Körper immer stärker unter Druck gerät und das für einige zur Lebensgefahr werden kann.
Ich muss babysitten. Naja, vielleicht trifft es babysitten nicht so ganz. Mein hyperaktives Gegenüber ist immerhin schon 8 Jahre alt und kann nicht aufhören, über ihre Lieblingsdisneyfilme zu sprechen. Um nicht zum nun zehnten Mal an diesem Abend „Let It Go“ hören zu müssen, lasse ich mir von ihr ihre Büchersammlung zeigen. „Was ist denn dein Lieblingsbuch?“, frage ich sie, während sie mich stolz rumführt. „Der kleine Prinz!“, sagt sie mir breit lächelnd. Ich gehe zu meiner Tasche und hole das Buch heraus, das ich gerade lese – es ist das gleiche.
Es gibt viele Gründe, den kleinen Prinzen immer und immer wieder zu lesen. Für mich ist ein Grund dieses Zitat:
„Die großen Leute lieben nämlich Zahlen. Wenn ihr euch über einen neuen Freund unterhaltet, wollen sie nie das Wesentliche wissen. Sie fragen dich nie: »Wie ist der Klang seiner Stimme? Welche Spiele liebt er am meisten? Sammelt er Schmetterlinge?« Sie wollen lieber wissen: »Wie alt ist er? Wie viele Brüder hat er? Wieviel wiegt er? Wieviel verdient sein Vater?« Erst dann werden sie glauben, ihn zu kennen. Und wenn ihr den großen Leuten erzählt: »Ich habe ein sehr schönes Haus mit roten Ziegeln gesehen, mit Geranien vor den Fenstern und Tauben auf dem Dach …« werden sie sich das Haus nicht vorstellen können. Ihr müsst vielmehr sagen: »Ich habe ein Haus gesehen, das hunderttausend Franken wert ist.« Dann kreischen sie gleich: »Oh, wie schön!«“
Das ist ein Zitat, das bei mir besonders hängen geblieben ist und im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung bekommen hat. Ich setze mich auf das Sofa und lasse meine Cousine in ihre eigene Glitzerwelt versunken Puppen spielen. Während ich sie so dabei beobachte, wundere ich mich, was sie so aus dem Buch für sich später mitnehmen wird und ob sie die Bedeutung dieses Zitates schon verstehen kann und es ihr dabei helfen kann, einige Fehler zu vermeiden.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
Vielleicht wird sie ihr eigenes Selbstwertgefühl trotzdem von Zahlen abhängig machen, die gar nichts über sie aussagen.
Vielleicht wird später in der Umkleidekabine stehen. Aus Kindergrößen ist erst 32 geworden. Dann 34, 36, vielleicht auch 38, 42, 44 oder auch mehr. Vielleicht wird mit dem Größerwerden ihrer Kleidung auch ihr Ekel größer werden und sie wird mit einer zu kleinen Jeans in der Umkleide stehen, in der Hoffnung, dass sie doch noch passt. Dann wird sie versuchen, sich die Hose anzuziehen, obwohl sie eigentlich weiß, dass es vergeblich ist und in dem Moment, in dem der Knopf nicht zugeht und Haut und Hüftfett aus dem viel zu engen Hosenbund quillt, wird sie wütend werden auf die Spiegel, die in jeder Umkleidekabine stehen und sich wünschen, nie wieder shoppen gehen zu müssen, einfach um nie wieder in einen Spiegel gucken und dieses widerliche, widerliche Fett sehen zu müssen und sich eingestehen zu müssen, dass sie wieder eine Kleidergrößer größer tragen muss.
Vielleicht wird sie sich dann abends im Badezimmer einschließen und dann komplett ausziehen. Hose, Oberteil, Socken, selbst die Unterwäsche und alles an Schmuck, was sie am Körper trägt, um das Ergebnis bloß nicht zu beeinflussen. Dann wird sie sich wie schon jeden Abend dieser Woche auf die Waage stellen. Vielleicht wird sie sich freuen, dass der Zeiger ein bisschen mehr Richtung 0 geht, und das, obwohl sie eigentlich in einem Alter ist, in dem sie jeden Tag ein Stückchen größer und breiter wird. Wahrscheinlich wird die Freude beim Gedanken an die zu kleine Jeanshose dann aber schnell verfliegen. Nicht genug. Es ist immer noch nicht genug. Die Zahl auf der Waage ist immer noch viel zu hoch und sie immer noch viel zu fett. Sie wird sich dann aber trotzdem vor den Spiegel stellen und sich dafür mutig finden, denn eigentlich will sie das alles eigentlich gar nicht sehen, aber sie muss sich der Wahrheit stellen, wenn sie an sich arbeiten will und die Wahrheit, ja die Wahrheit ist die Haut an ihrer Hüfte, die sie langziehen wird und ihre Oberschenkel, die sich immer noch berühren, und ihre Arme, die so eklig wabbeln, wenn sie den Arm hebt und noch fetter aussehen, wenn sie sie vor der Brust verschränkt. Das sollte sie nicht mehr in der Öffentlichkeit machen.
Vielleicht werden all diese Zahlen sie daran hindern, eine richtige Bindung mit anderen Menschen einzugehen. Vielleicht wird es ihr schwer fallen, andere Mädchen in ihrer Komplexität wahrzunehmen, denn für sie gibt es zwei Kategorien, die ihren: dicker als sie und dünner als sie – oder auch: „Zum Glück bin ich nicht so!“ oder „So will ich werden!“. Letztere lernt sie vielleicht vor allem im Internet kennen. Auf Tumblr oder Instagram oder welche Plattform auch immer gerade in ist, wenn sie alt genug ist. Dort, wo „Ana“ ihre beste Freundin ist, und „Ana“, das sind nicht die, deren Oberschenkel sich berühren und deren Arme so eklig wabbeln, sondern jeder mit diesen wunderschönen Schlüsselbeinen, die hervorstehen.
Hunger als Machtgefühl, Macht über den eigenen Körper. Magersucht als Sucht, die ihr zuflüstert, dass sie die Kontrolle noch behält, ja, dass sie mehr Kontrolle hat als jemals zuvor, solange sie nur stärker ist als der Hunger. Und wenn der Hunger dann doch einmal stärker ist, dann sind da ihre Freunde im Internet, die ihr helfen. Die ihr sagen, was sie tun muss, um stärker zu werden als ihr Körper. Vielleicht wird sie dann an der Toilettenschüssel stehen, und alles versuchen, um dieses gottverdammte Essen wieder aus ihrem Körper zu bekommen. Vielleicht wird der klassische Finger im Rachen nichts bringen, denn zu sehr will das Essen in ihrem hungrigen Körper bleiben. Würgen. Tränen. Nichts. Vielleicht wird sie dann das gesamte Reportoire ausprobieren, das ihr die anderen empfohlen haben. Trick um Trick. Das Beste aus dem machen, was so da ist. Vielleicht wird das Essen dann trotzdem in ihrem Magen bleiben und sie wird aus dem Badezimmer stolpern, eine Hand an der Wand gestützt, denn ihre Beine zittern und in ihrem Kopf ist da dieser Nebel und ihr Körper ist geschunden. Vielleicht wird sie sich fragen, ob sie es mit ihrem Körper diesmal zu weit getrieben und ihre Beine werden mit jedem Schritt etwas mehr zittern, während sie sich fragt, ob es das jetzt wohl war, und sie muss sich vorstellen, wie ihre Eltern sie finden, wie sie auf dem Boden liegt und sich nicht mehr bewegt und der Krankenwagen wird gerufen und sie würden es ja nicht verstehen, sie würden es nicht verstehen, wie viel leichter sich die Welt anfühlt, wenn man doch nur selber leicht wäre, und sie würden es nicht verstehen und sie entsetzt angucken und sich fragen, wer die Schuld hat und wo die Schuld ist, wo alles schief gegangen ist, aber sie werden nicht verstehen, wie viel leichter es doch wäre, und wahrscheinlich wäre es leichter, wenn ihre Beine jetzt die Kraft aufgeben würde und ihre Eltern den Krankenwagen rufen, aber sie müsste sich nie mit ihren Fragen auseinandersetzen, denn vielleicht wäre es einfacher, wenn sie dann einfach schon tot wäre.
Vielleicht wird sie das in dem Moment denken.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
Hoffentlich nicht.
Ich gucke ihr weiter beim Spielen zu, klatsche begeistert an den richtigen Stellen und gleichzeitig wünsche ich mir, dass sie einen einfacheren Weg haben wird als ich. Meine Waage steht verstaubt im Keller. Zu schwer wiegt noch die Last der Zahlen auf mir, als dass ich sie wieder abstauben und nach oben holen würde. Ich habe schon ganz viele erste Schritte gemacht, aber es ist ein langsamer Prozess. Ich frage mich selber immer noch viel zu oft nach Zahlen, anstatt mich die wirklich wichtigen Fragen zu stellen. „Bin ich mit mir und meinem Umfeld glücklich? Wie sehr im Reinen bin ich mit mir selbst? Was könnte ich noch tun, um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen? Zeige ich den Menschen, die mir wichtig sind, das auch oft genug? Wie kann ich etwas mehr Liebe in die Welt bringen? Wonach riecht eigentlich Glück?“ Das sind Fragen, die es sich zu stellen lohnt, aber egal wie ich sie beantworte – mein Wert als Mensch bleibt unantastbar. Die Waage bleibt noch eine Weile im Keller – zumindest so lange wie die Zahlen auf ihr für mich mehr Wert sind als bloße Information.
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