Wie im Kindergarten

Rache ist süß? Süß vielleicht, aber bestimmt nicht gerecht. Sich für Kränkungen bei Menschen zu rächen, die mit ebendieser Kränkung überhaupt nichts zu tun haben – das lässt nur die Spirale der unsinnigen Rache weiterdrehen. Statt zurückzuschlagen sollte man es wirklich besser machen, findet Dominik. 

Als ich in der 6. Klasse war, gab es die großen Jungs aus der 9. Klasse. Sie besaßen Körper, die in jeder Dimension die doppelten Maße des eigenen besaßen, liefen dreimal so schnell wie man selbst und schossen so hart, dass man einige Ballkontakte mit Mitschülern durchaus an die Pannenshow hätte schicken können (Mögliche Titel: Ball vs. Gesicht — Ball 1, Gesicht 0 o.ä.). Dennoch sind mir die Großen bis heute besonders dadurch im Gedächtnis geblieben, dass sie uns jede Pause mit steter Beharrlichkeit den Ball klauten und ihn über die Zäune in die Hecken schossen. Die Hecken hatten Stacheln und der Zaun war sehr hoch, doch das, denke ich, versteht sich ziemlich von alleine.

Natürlich war man sauer auf die Großen, die man ob ihrer Dribblingkünste auf der einen Seite zwar wirklich bewunderte, auf der anderen jedoch für eben diese unsinnigen Aktionen zutiefst verachtete. Natürlich arrangierte man sich mit der Zeit, indem man irgendwann einen zweiten Ball mitnahm oder sich einer zu den Hecken stellte, damit die „Neunies“ (pubertierende Kinder sind die besten) irgendwann den Spaß verloren.

Doch dann, als wir selbst in die neunte Klasse kamen, schien mit dem ersten Handy, der ersten Freundin und mit der Abgewöhnung einer Unzahl uncooler Dinge auch eine gewisse Amnesie einzusetzen. Einige meiner Mitschüler begannen selbst, den Kleineren den Ball zu klauen und ihn in die Hecken zu schießen, was ich wirklich nicht verstanden habe. Und zwar auf eine andere Art nicht verstanden, als ich den Satz des Pythagoras zu Beginn nicht geschnallt habe. Es war ein Unverständnis, das tiefer saß und sich bis zum heutigen Tag nicht lösen lässt.

Wie kann es sein, dass man sich für eine Kränkung an Menschen rächt, die mit dieser Kränkung rein gar nichts zu tun haben? Und noch viel schlimmer: Wie kann man nicht sehen, dass man so die Spirale der unsinnigen Rache stetig weiterdreht? Denn natürlich werden auch diese Sechstklässler älter und somit ebenso zu Balldieben und Piesackern. Genauso wenig wie das Verhalten meiner Mitschüler verstehe ich das Verhalten vieler Männer gegenüber Frauen und Frauen gegenüber Männern in Führungspositionen, welches, glaube ich, einer ganz ähnlichen und ebenso falschen Logik folgt. Oft macht es den Anschein, dass Sexismus ein typisch männliches Problem sei, was meiner Meinung nach jedoch keine treffende Beobachtung ist. Vielmehr scheint Sexismus kein geschlechtsspezifisches Phänomen zu sein, sondern vielmehr mit der Verlockung gesellschaftlicher Macht einherzugehen. Wer die Möglichkeit hat, nach unten zu treten, weil ihm*ihr einst von oben herab Leid zugefügt wurde, nutzt diese Möglichkeit. Nur bestraft man auch hier nicht die Täter, sondern andere, die wiederum die eigene Handlungsweise an Dritten wiederholen. Es ist ein Teufelskreis, den man mit logischem Menschenverstand durchbrechen könnte, wenn, ja wenn da die Emotion und das eigene Ehrgefühl nicht wären.

Vor Kurzem habe ich an der von Zeit Online organisierten Veranstaltung Z2X teilgenommen, die, das sei voraus gesagt, eine wirklich gute und gewinnbringende war. Dennoch erstaunte mich, dass unter den 500 Teilnehmer*innen eine extreme Feindlichkeit gegenüber älteren Menschen in Führungspositionen herrschte. Wo man gendersensibel war und sich umfassend tolerant im Umgang mit Menschen jeglicher Herkunft und körperlicher Verfasstheit zeigte, zog man umso härter über „die grauen alten Säcke in den bequemen Stühlen“ her. Nun ist es für jede Generation normal, dass sie sich von der vorherigen abzustoßen versucht, jedoch kann dies nur gelingen, wenn man einen Diskurs eröffnet und ihn nicht durch Beleidigungen und andere Blockiermechanismen schon von vornherein verstellt.

Auch scheint die Sensibilität für Sexismusprävention in vielen Bereichen nur in eine Richtung ernstgenommen zu werden: Frauen müssen geschützt werden, das ist selbstredend richtig. Noch immer leiden viel zu viele Frauen unter ihren Ehemännern (schaut in die Wohnzimmer), unter ihren Chefs (schaut in die Büros) und unter ihren Freunden (schaut in die Chats mit der besten Freundin). Doch wird mit einem alleinigen Umdenken hinsichtlich der Beziehung Mann-Frau keine bessere Gesellschaft erreicht werden. Ebenfalls vor gar nicht so langer Zeit verbrachte ich einen Sonntagnachmittag im Mauerpark Berlin und sah eine Akrobatin, die tänzerische Elemente mit komödiantischen Einlagen mischte. Wie es dieses Genre so will, holte sie sich für eines ihrer Kunststücke einen Freiwilligen aus dem Publikum, für dessen Auswahl sie den Bizeps verschiedenen Männer prüfte. „Holla die Waldfee“, könnte man da sagen „das ist ein Spaß! Der Stärkste darf die Stange halten. Und der freut sich doch, wenn er seine Muskeln zeigen kann, sonst hätte er sie ja gar nicht und würde sie auch nicht so zeigen.“ Jedoch kippt das Szenario relativ schnell, wenn man sich vorstellt, die Akrobatin wäre ein Akrobat und dieser würde den Hüftumfang verschiedener Frauen messen, da die Freiwillige körperlich fit sein muss.

Man sieht schnell, dass oft mit zweierlei Maß gemessen wird, je nachdem, ob Macht besessen oder Macht ausgeübt wird.

Oft wird nun an dieser Stelle der Einwand vorgebracht, dass Frauen nun lange genug die Pein ertragen hätten, die Männer über sie verübten und dass sie nun zurückschlagen dürften. Das ist jedoch kein wirklich guter Einwand, wenn man es sich recht überlegt. Man merkt das bereits an der Rhetorik. Mit „zurückschlagen“, wurde bis jetzt nur sehr selten irgendetwas besser gemacht. Viel mehr geht man dann noch einen Schritt in der Klassenstufe zurück, bis man tatsächlich wieder in die Vorschule plumpst und sich fragen muss, wer denn jetzt nun angefangen hat.

Tom muss also aufhören, die Lisa mit Sand zu bewerfen. Lisa darf ihn aber auch nicht, wenn er doch eventuell gerade dabei ist seinen Fehler einzusehen, an den Haaren ziehen.

 

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Ich glaube, dass das Hineindenken in die Standpunkte anderer eine der wichtigsten Fähigkeiten ist, die wir heutzutage haben können. Warum ich also hier bin? Um mein Weltbild nicht auf Halbwissen und Vorurteilen, sondern Meinungen und verschiedenen Perspektiven zu gründen.