Wie steht es eigentlich um die sexuelle Aufklärung von Jugendlichen? Im Jahr 2020 könnte man doch meinen, dass es da einigermaßen fortschrittlich vonstatten geht, oder nicht? Unsere Autorin Lilith hat sich mit einigen Studien aus den vergangenen Jahren auseinandergesetzt und sich so ihre Gedanken dazu gemacht. Hier lest ihr ihren Text:
Ein Mann liegt auf dem Rücken auf einem Steinboden. Den linken Ellenbogen hat er aufgestützt. Sein Kopf kann der Betrachter im Profil erkennen. Sein rechter Arm ist nach vorne gestreckt. Er greift damit die Schultern einer Frau, die über ihm liegt und ihm zulächelt. Beide sind nackt.
Diese Darstellung auf einer Vase aus dem frühen Griechenland ist keine Seltenheit. Sexualität unzensiert dargestellt auf Gefäßen, Tellern und in Form von Statuen. Ob gleichgeschlechtlich oder mit Tieren – alles schien gemalt werden zu dürfen. Heute traut man sich kaum noch solche Szenarien in Biologiebüchern abzudrucken – und im Internet erhält man bei der Bildersuche mit dem Stichwort Sex ein Raster aus 95% „Nicht-Jugendfrei“ Angaben. Doch – wenn all das nicht für die Jugend geeignet ist – wie soll man nach dem Jugendalter auf einmal wissen, wie mit der Fülle an sexuellen Darstellungen umzugehen ist? Denn nur weil man darüber schweigt, bedeutet es nicht, dass Sexualität in der heutigen Gesellschaft keine Rolle mehr spielt.
Ein Drittel verhütet nicht regelmäßig
Eine Studie, die gemeinsam von Jugend gegen AIDS e.V. und LOVOO 2016 durchgeführt wurde, zeigt Missstände in der sexuellen Aufklärung Jugendlicher auf. Ein Drittel der 2500 Teilnehmenden mache sich vor und bei dem Geschlechtsverkehr keine Gedanken über sexuell übertragbare Krankheiten und 20% der Männer nahmen eine potentielle Vaterschaft wissentlich in Kauf. Ein Bewusstsein für Risiken fehle in vielen Fällen. Jeder vierte Befragte gab an, keinen Ansprechpartner zu haben, um über Themen, die Sexualität betreffen, sprechen zu können. Darunter leidet nicht nur die Sicherheit bei sexuellen Kontakten sondern auch das Selbstbewusstsein der Individuen.
Auch die US-Amerikanische Journalistin Peggy Orenstein befasst sich mit diesem Thema. In ihrem Buch „Girls & Sex. Was es bedeutet, in der Gesellschaft von heute erwachsen zu werden“ verarbeitet sie die Antworten von 70 Mädchen und Frauen im Alter von 15-20 Jahren.
Mädchen – das besonders betroffene Geschlecht?
Immer noch gelten Mädchen mit mehreren Sexualpartnern als Schlampen, während das andere Geschlecht mit der Quantität an Kontakten angibt. Auch sexuelle Belästigung, selbst in der Schule, sei für Mädchen wohl deutlich häufiger als für ihre Mitschüler. Eine mangelnde Thematisierung von Sexualität und dem Umgang mit dem eigenen Körper führe auch zu einer hohen Anzahl an versandten Nacktfotos und dem Konsum von Pornographie. 40% der Jugendlichen im Alter von 10-17 kämen mit diesen Elementen in Kontakt. Gefährlich sei, dass das Gesehene zunehmend als normal eingestuft würde – schließlich fehle die realistische Referenz.
Erschreckend nimmt die Autorin auch wahr, dass die Hälfte der Befragten bereits Erfahrung mit Nötigung bis hin zu Vergewaltigung machen musste. Auch, dass von 70 Umfrageteilnehmerinnen nicht mehr als zwei mit ihren Eltern über das Thema gesprochen haben, ist beunruhigend. Die Bildung kommt heutzutage also weder aus der Schule noch von zu Hause.
Mitarbeiter des Fachverbands für Familienplanung, Sexualität und Sexualpädagogik in Deutschland bestätigen, dass diese Situation kein rein US-amerikanisches Phänomen darstellt. In Anbetracht ihrer Erfahrungen aus den Beratungen, seien die Ergebnisse der Untersuchung gut auf die Bundesrepublik übertragbar.
Es fehlt an allen Ecken und Enden an Ansprechpartnern
Selbst bei den Fachexperten wird selten Rat gesucht. Dies erkannte auch das Universitätsklinikum Bonn, das bereits 2005 im Kongress „Sexualität und Identität“ Ärzte und Psychologen an einen Tisch holte. „Das Thema Sexualität sollte in der Arzt-Patienten-Beziehung endlich aus der Tabuzone heraus. Denn um dem Betroffenen helfen zu können, müssen Ärzte das meist vielschichtige Problem aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten“, äußert sich Professorin Dr. Anke Rohde, Leiterin der Gynäkologischen Psychosomatik an der Universitäts-Frauenklinik.
Eine 2010 erschienene Studie des Instituts für Demoskopie zur „Gesprächskultur Deutschlands“ zeigt sogar auf, dass das Thema Sex immer mehr tabuisiert wird – ohne Anzeichen auf eine Entspannung. Selbst Filme wie „Fifty Shades of Grey“ führen nicht zu einer Öffnung der Gesellschaft, sondern eher zu noch mehr Schweigen im persönlichen Gespräch.
Internetseiten wie meinTestgelände sind die Ausnahme, die die Regel bestätigen. Wir brauchen mehr von derartigen Initiativen – und mehr mutige Individuen, die das Thema immer wieder ins Gespräch bringen – ohne Scham und Pein. Nur so können wir einen offenen und sicheren Umgang mit Sexualität fördern.
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