In diesem Sommer hat Tom verstanden, dass die männlichen Stärke-Mantras seiner Kindheit ihn behindern, anstatt ihm Werkzeug zu sein für ein positives Leben: soft und durchlässig statt stählern und unerreichbar, so soll zukünftig die innere Ordnung aussehen und das Ich befreien.
Winter is coming. Die Sommerzeit ist seit dem 30. Oktober endgültig vorbei. Die Tage werden kürzer. Wir befinden uns im Übergang. Gerade jetzt in meiner Lieblingsjahreszeit, dem Herbst, reflektiere ich verstärkt und versuche mich wie alle Jahre wieder auf den Winter vorzubereiten, um dann im Winter zu merken, wie wenig ich mich doch vorbereitet habe.
Doch dieses Jahr wird es anders. Die Jahreszeiten haben sich persönlich für mich verschoben. Ich fühle die Leichtigkeit des Sommers, den ich erst seit Ende August wirklich gelebt habe. Erst zu dieser Zeit, als mein dreiwöchiger Jahresurlaub bevorstand, hatte ich das Gefühl, sommerlich im Außen zu leben. Die Freiheit im Kopf, die Sorglosigkeit im Herzen. Erleben. Auf Reisen mit dem 9 Euro Ticket, auf Konzerten, in der Natur, bei Freund:innen und Familie. Spontan und des Erlebens wegen. Und auch mal ’ne Nacht planlos im Freien ohne Schlaf zu verbringen, weil der Zug zu voll war. Ich bin auf neue Menschen zugegangen, habe mich eingeschlafenen Freund:innenschaften wieder gewidmet und meinen Innercircle, mit meinen vertrautesten zwischenmenschlichen Beziehungen, neue Höhepunkte meines Lebens gefühlt.
Diese Zeit fühle ich heute immer noch. Zumindest stelle ich sie mir vor und zehre daran, wie der Akku meines Smartphones von meiner Powerbank. Ich stelle mir vor, dass es möglich ist, trotz Unruhen innerlich ruhig zu bleiben. Unruhen global, Unruhen lokal, Unruhen auf Arbeit, Unruhen im Leben meiner Beziehungsperson und Unruhen, weil ich mich heute schon wieder ausgesperrt und dadurch den Videocall mit meiner Therapeutin verpasst habe. „OMG WO IST MEIN KOPF; WARUM BIN ICH SO TOLLPATSCHIG; ALLES SCHEIßE; ICH LEG MICH INS BETT UND WILL NICHTS MEHR VON DER WELT WISSEN“, hätte ich vor einem Jahr gesagt, als sich meine Traum WG, als Wohnungsalptraum herausgestellt hatte.
Heute stelle ich mir vor, dass ich mit einer abgeschnittenen PET-Flasche selbst bei mir einbrechen kann und dass meine Therapeutin Verständnis hat, wenn ich dadurch später zum Therapietermin komme. Und genau das ist auch eingetroffen. Nicht weil ich zaubern kann, sondern weil dieser Fall nicht das erste Mal eintritt. Weil ich nicht das erste Mal bei mir selbst eingebrochen bin und weil ich nicht das erste Mal aus irgendwelchen Gründen nicht pünktlich zu meinem Therapietermin erscheinen konnte. Ist meiner Therapeutin übrigens auch schon passiert. So what. Ich versuche flexibel zu bleiben. Soft, durchlässig und keineswegs stählern und unerreichbar. Daran würde ich nur zerbrechen. Beziehungsweise bin ich daran schon öfter zerbrochen. Vieles ließ sich aber wieder fixen. Das Chaos wieder in Ordnung bringen.
In dem Buch „Ungezähmt“, von der Bestsellerautorin Glennon Doyle, heißt es: „Es gibt zwei Arten von Ordnungen der Dinge. „Die Sichtbare und die Unsichtbare“. Als sichtbare Ordnung beschreibt Doyle einen gesamtgesellschaftlichen Blick auf die Dinge. „So ist es“. In meinem Fall mit der Tür, Glaubenssätze wie: „Das schaffst du eh nicht. Was werden die Nachbar:innen denken. Ruf lieber den Schlüsseldienst und zahle 80 Euro. Selbst Schuld.“ Glaubenssätze, die ich als Kind verinnerlicht habe. Meistens von erwachsenen Autoritäts- und Bezugspersonen, die in ihrer Kindheit diese Glaubenssätze verinnerlicht haben. Von meinen Eltern, Großeltern, Lehrer:innen oder Trainer:innen im Sport. Meistens von erwachsenen Autoritäts- und Bezugspersonen, die in ihrer Kindheit diese Glaubenssätze verinnerlicht haben. Und nicht selten erwische ich mich dabei, dass ich auf Arbeit als Erzieher anderen Kindern ähnliche Glaubenssätze mitteile. Und jetzt: Wie lösen wir uns davon?
Der Elefant im Raum heißt „Emanzipation“ und definiert die Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit; Selbstständigkeit. Gleichstellung. Also in meinem Beispiel die Umformung der Glaubenssätze in: „Du schaffst das. Du kannst es den Nachbar:innen erklären. Dann liegt es an ihnen, es zu verstehen. Du kannst dich selbst aus der Situation befreien, auch ohne Geld. Und selbst wenn du nicht erfolgreich bist, es ist nicht Deine Schuld. Es hätte auch Deinem Nachbarn passieren können“. Doyle schreibt hier von der unsichtbaren Ordnung in unserem Inneren. „Es ist die Vision einer wahrhaftigen, schöneren Welt, die wir in unserer Vorstellung mit uns tragen.
Ich glaube, wenn wir diese Vorstellungskraft nicht fühlen können oder uns durch zum Beispiel die bewusste oder unbewusste Unterdrückung unserer Gefühle der Zugang zu unserem Inneren verwehrt ist, dann ertränken wir uns sprichwörtlich in unserem eigenen Leid. Wir verharren in der Opferrolle und verlieren das, was unter all dem „Erwachsenseinkram“ in die hinterste Ecke unseres Bewusstseins verschwindet. Unsere Träume, das, was wir fühlen, erschaffen wollen und die Welt damit verändern wollen.
Unter all diesen Unruhen im Außen und dem ständigen Kampf nach „Gehör finden“ werden wir taub. Taub für unsere Gefühle und für das, was zu jeder Zeit und an jedem Ort in uns ist. Die Möglichkeit, abzutauchen in unsere inneren Welten, in die unsichtbare Ordnung, frei von Krieg, Pandemie, Patriarchat und Kampf und dort innere Ruhe wahrzunehmen. Tief unten am Meeresgrund spüren wir nicht die Welle, die oben das Schiff überschwemmt und zum Sinken bringt. Tief unten können wir in Ruhe an uns und an dem, was uns wichtig ist, arbeiten. Und wenn wir wollen und und es uns möglich ist, dann tragen wir es an die Oberfläche und lassen es selbstständig und frei schwimmen. Sollte es untergehen, dann fixen wir es wieder. Mit dem Wissen: Tief unten im Inneren haben wir die Ruhe dafür.