Das ist doch krank!

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„Wieso muss Mensch, wenn er krank ist und auf die Krankheit aufmerksam machen will, sich von anderen Menschen beurteilen lassen, wie krank Mensch doch ist? Das ist doch krank. Und hat Mensch nicht genug mit den Auswirkungen der Krankheit und der Sichtbarmachung der Krankheit zu tun?!“ Tom ist nicht bereit, solchen „männlichen“ Einstellungen zu folgen.

Mein letzter Text ist am 7.12.2021 erschienen. „Hatte viel um die Ohren. Brauchte Zeit für mich. „Hab mal ’ne Auszeit gebraucht“, das habe ich oft gesagt, wenn Menschen mich gefragt haben, was denn los sei. Für mich sind das übliche Aussagen, um in unserer Gesellschaft Termine abzusagen oder sich bei Menschen für mangelnde Kontaktpflege zu rechtfertigen. Der Ansatz „Ich bin krank und bereit, über meine Krankheit zu sprechen“, findet öffentlich selten bis gar nicht statt.
Am 12.04.22 hat die Autorin Margarete Stokowski ihren bis dato letzten Artikel in ihrer Kolumne beim Spiegel veröffentlicht. Zuletzt sprach sie auf der Bundestags-Pressekonferenz in Berlin über ihre Long Covid Erkrankung. 264 Tage seit Symptombeginn lebt sie mit den Folgen der Krankheit. Seither kann sie kaum noch Termine wahrnehmen und weder ihrer Arbeit als Autorin nachgehen noch privat unabhängig für sich sorgen. Die Reaktion: Hass und Anfeindungen im Netz, eingebettet in Twitter-Posts von „Beweisen“, dass es ihr doch gut ginge, weil sie Brot gebacken hat und sich die Nägel lackiert hat.
Wieso muss Mensch, wenn er krank ist und auf die Krankheit aufmerksam machen will, sich von anderen Menschen beurteilen lassen, wie krank Mensch doch ist? Das ist doch krank. Und hat Mensch nicht genug mit den Auswirkungen der Krankheit und der Sichtbarmachung der Krankheit zu tun?!
Wie ich es oft erlebe: Anscheinend nicht, denn Mensch muss für jegliche ungefragten und ungewollten Rückfragen und als Expert:in über die Krankheit und das, was diese mit sich bringt, Rechenschaft ableisten.
Wie ich es mir wünsche: Mensch sollte das nicht müssen.
Denn das führt in unserer Gesellschaft dazu, dass Mensch selten bis gar nicht gerne bereit ist, über die Krankheit öffentlich zu sprechen. Was aber für diesen Menschen und alle anderen Betroffenen wichtig wäre, um Tabus zu brechen und unsichtbare Krankheiten sichtbar zu machen.
Oft scheitern Betroffene sogar daran, sich guten Gewissens krankschreiben zu lassen. Teils aus emotionalen Gründen, teils auch aus finanziellen. Mein Ausbildungsbetrieb hat mich damals untertariflich bezahlt mit der Begründung: „Wir haben ein Bonusprogramm. Für gute Bewertungen der Abtleitungsleitenden und möglichst wenig Krankheitstage kannst du Zulagen auf deinen Lohn erhalten. Ganz easy. Und dann verdienst du quasi übertariflich.“
De facto: Die Mitarbeitenden, die sich im Jahr, egal ob krank oder nicht, auf Arbeit geschleppt haben, hatten am Ende des Monats dafür mehr Geld als Mitarbeitende, die krank zu Hause geblieben sind und sich ausgeruht haben. Das ist doch krank.
Wir schicken Menschen in unserer Gesellschaft krank zur Arbeit. Und damit meine ich nicht Menschen, die versuchen, mit chronischer Krankheit ihr Leben zu leben und den Job oft unter Anstrengung zu überleben. Nein, damit meine ich zum Beispiel Krankenhäuser, die ihre Mitarbeitenden fünf Tage nach einer Corona-Infektion mit einem positiven Test zurück auf Station geschickt haben, um einen Kollaps im deutschen Gesundheitssystem zu verhindern. Das ist doch krank. Quelle: https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/rhein-main/zur-arbeit-ins-krankenhaus-trotz-positivem-corona-test_25645297

Nein, krank sein sollte nichts Schlechtes, nichts Außergewöhnliches, nichts Problematisches sein. Und Menschen, die krank sind, sollten von anderen Menschen auch nicht als schlecht, außergewöhnlich oder als Problem von anderen Menschen von außen beurteilt werden. Sie sollten gar nicht beurteilt werden. Ein Mensch, der mit einer oder mehreren Krankheiten temporär oder chronisch lebt, ist genauso individuell zu betrachten wie ein Mensch, der ohne Krankheit lebt. Egal, mit welcher Krankheit Mensch lebt oder wie Mensch im eigenen Empfinden darunter leidet oder Einschränkungen erfährt. Und wenn Mensch darüber sprechen will, sollten wir nicht beurteilen, sondern viel mehr aktiv zuhören und Verständnis zeigen. Denn sprechen wir nicht mehr über unsere Krankheiten, gelangen diese Einblicke nicht in die Öffentlichkeit. Was dazu führt, dass vermutlich nur wenig über diese Krankheit geforscht wird. Dadurch kann nur schwer ein Medikament, eine Therapie oder eine Impfung entwickelt werden, um dafür zu sorgen, dass Menschen mit einer Krankheit, einer Infektion oder einer Störung (OMG, wie ich diesen Begriff nicht ausstehen kann, aber das hat dann Platz in einem anderen Artikel), ohne darunter zu leiden, leben können. Und wenn das nicht klappt, können aus Krankheiten sogenannte Volkskrankheiten oder gar globale Pandemien werden.
Krank sein sollte auch keine Angst hervorrufen, zu medizinischem Fachpersonal gehen und sich krank zu melden. Es ist nicht schlecht, außergewöhnlich oder problematisch, sich von medizinischem Fachpersonal krankschreiben zu lassen und es sollte auch von Arbeitgeber:innenseite oder Kolleg:innenseite keine ungewollten und meist unangenehmen Rückfragen geben. Das Statistische Bundesamt schreibt zum Beispiel über den Krankenstand im Jahr 2007, der seit 1991 im Durchschnitt die niedrigsten Fehlzeiten hervorruft: Mögliche ursachen können eine allgemein verbesserte Gesundheitslage oder der Rückgang gesundheitsbeeinträchtigender Arbeiten (zum Beispiel im Produzierenden Gewerbe) sein. Aber auch die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes kann Arbeitnehmerinnen und Arbeitneher veranlassen, sich seltener krank zu melden. Insbesondere in konjunkturellen Schwächephasen gehen die Krankmeldungen zurück, wie die Entwicklung seit 1991 zeigt. 2007 standen wir kurz vor einer globalen Wirtschaftskrise, heute befinden wir uns inmitten einer Energiekrise. Just saying.
Ich selbst hatte im ersten Lehrjahr 27 Krankheitstage und wurde dafür zum Personalchef zitiert. Dort musste ich mich rechtfertigen. Ihr wollt wissen, warum ich 27 Krankheitstage hatte? Genau, dafür muss ich mich nicht rechtfertigen.

Moin! Ich bin Tom. Aufgewachsen auf dem Land in Bayern. Zuhause in Berlin. Neben meiner Arbeit als Journalist für Soziales und Gesellschaft begegnen mir im Alltag und Freundeskreis Themen, wie die Wahrnehmung von Geschlechterrollen, LGBTQ außerhalb Deutschlands und der Zeitgeist der Zukunft. Dabei stelle ich mir selbst und anderen Fragen. Die Antworten dazu oder die Erkenntnis, dass es meist keine eindeutige Lösung gibt blogge ich hier auf meinTestgelände.