Sozialer Akku leer? Das kennt Tom als Peoplepleaser gut. Wie er damit umgeht und was in seinem Selbstfürsorge-Erste-Hilfe-Koffer steckt, lest ihr hier.
Aus den Gedanken eines Peoplepleasers
Alle Jahre wieder..kommt der Weihnachts- und Jahresendstress. Die Zeit im Jahr, an der ich alle Baustellen auf einmal abschließen will. Meine Kolleg:innen, Freund:innen, Wahl- und Blutfamilie geht es ähnlich. Sie reißen an mir und ich an ihnen, bis ich kurz vorm 24. Dezember gestresst zu meinen Feiertagsverpflichtungen aufbreche. Ich will ihnen allen gerecht werden und gleichzeitig meinem Bedürfnis, den aufgeladenen Stress abzubauen und für mich selbst Sorge zu tragen, nachkommen. Good Luck.
Natürlich dreht sich an dem Ort, den ich aus Gründen nur zwei Mal im Jahr besuche, nicht alles um mich und meine Bedürfnisse. Gleichzeitig will jedes Blutsfamilienmitglied verständlicherweise auch Zeit mit mir verbringen. Rückblickend werde ich aber, wie die letzten Jahre auch, meine Bedürfnisse auf später versetzen und die zahlreichen Bitten zwischen Tür und Angel vergessen. Zu viel auf einmal. Ich fühle mich voll(gefressen).
Was ich aber 2022 gelernt habe:
Es tut gut, sich zwischen Alltags- und Familienweihnachtsstress ein paar Urlaubstage an einem coolen Ort nur für mich zu nehmen. Es tut ebenso gut, meine individuellen Bedürfnisse, Stresspunkte und Wünsche vorab zu äußern und Grenzen zu setzen. Allerdings geht’s mir nicht gut damit, wenn ich diese vor Ort dann über den Haufen werfe, um den Denk- und Handlungsmustern meiner Blutsverwandtschaft, die in vielen Situationen anders sind als die meinen, gerecht zu werden. Auch wenn Konflikte dabei vermieden werden und die Harmonie zumindest für ein paar Tage bewahrt werden kann. In mir steigt der Stresspegel. Der Stresspegel, der bei dem nächsten „Klar doch, mach ich. Alles gut“ ein Stückchen mehr vorm Überlaufen ist.
Und das alles tue ich nicht aus Nächstenliebe. Es ist ein über die Lebensjahre angelerntes Verhaltensmuster und eine Strategie, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Ja verdammt,
ich vermeide Konflikte, wie ein einsames Reh im Wald, die Berührungen fremder Menschen, die doch so gerne das Reh streicheln wollen. Ich bin ein Peoplepleaser.
Der Vorteil: Ich bin in einer anderen Position als damals in meiner Kindheit. Ich bin handlungsfähiger und habe mit der Zeit gelernt, meine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und vor meinen Bezugspersonen, wenn nötig, mit schlagfertigen Argumenten auszudrücken. Außerdem kann ich mich rausnehmen. Raus aus der Situation (Blickwechsel, Perspektivwechsel, Bewegung, paradoxe Intervention), raus aus dem Raum und auch raus aus meinem Gedankenkarussell, das sich manchmal so wild dreht, dass mir körperlich und seelisch übel wird. Wenn ich mich rausnehme, gehe ich meistens auch raus. Auf einen Spaziergang, auf Geschenkkistentouren oder raus aus der Stadt im Sinne eines Tapetenwechsels.
Und meistens gehe ich dann auch wieder rein. Rein in den Rückzugsraum. Rein in die Selbstfürsorge. Dort steht meistens ein imaginärer Koffer. Oder Zettel und Stift für eine „Was ich jetzt brauche“-Liste. Das kann ganz unterschiedlich sein. Bei meinem letzten stillen Konflikt mit mir und meiner Situation eines Umzugschaos, der sich in einem heißen Konflikt mit meiner Partnerin ausgedrückt hat, stand zum Beispiel:
- Etwas Leckeres, Wohltuendes selbst kochen
- Kleidung von meiner letzten Geschenkkistentour anprobieren
- Ein Entspannungsbad nehmen
- Mich auf meine Akkupressurmatte legen und einen Podcast hören
- (M)eine Serie weitergucken, bei der ich weiß, ich werde sicherlich so berührt sein, dass ich weinen muss. (Ja, muss. Mir hilft Weinen sehr, Druck auf körperlichem Wege abzubauen, allerdings brauche ich Auslöser dafür, da ich auch Gefühlsvermeidungsmuster internalisiert habe.)
- Körperpflege (Hand/Fußmassage und Peeling, Haircut, Rasur, Make-Up)
- „Was aus der Kreativkiste“
- Tanz- und Traumreise, Meditation
- Mit Freund:innen telefonieren
- Schlafen und Durchatmen. Ja, meistens fühlt sich Körper und Kopf schon ganz anders an, wenn man für n Stündchen den Stand by Modus aktiviert.
Was ich auf der Liste nicht aufgeschrieben habe, sondern diesmal auf der „To-do-Liste” gelandet ist:
Reflexion der Situation und der eigenen Handlung → Klärungsgespräch suchen → Handlungsmuster wahrnehmen, überdenken und beim nächsten Mal „anders” reagieren.
An diesem Tag war ich so k.o, dass ich erst mal Zeit und Raum nur für mich gebraucht habe. Erst als mein Akku wieder zur Hälfte geladen war, konnte ich den Energiesparmodus verlassen, die Energiezufuhr abstecken und mich mit dem Grund des plötzlichen Energieverlustes beschäftigen. Das Ladekabel aka meine „Was ich jetzt brauche Liste“ natürlich griffbereit neben mir. Wichtig ist nur: Das alles braucht Zeit und Raum. Geduld und meine „jeder (Baby)step zählt“-Mentalität helfen dabei.
Mein Selbstfürsorge-Erste-Hilfe-Koffer mit allerhand Werkzeugen, mir selbst zu helfen, funktioniert nur, wenn ich auch noch genügend Kraft habe, ihn zu öffnen und die Tools anzuwenden. Wenn ich aber so viel Energie verloren habe, dass mein Körper und Kopf abschaltet und nicht mehr betriebsbereit ist, brauche ich Fremdfürsorge. Dann muss mitunter tief zu mir durchgedrungen werden, weil mein Körper und mein Kopf so viele unterschiedliche Mauern aus Schamgefühlen, Angstgefühlen und Selbstwertminderungen aufgezogen hat, dass ich selbst keinen Zugang mehr zu mir selbst finde und diese Gefühle im Moment auch gar nicht spüren kann. Fehlermeldung.
Meine tiefenpsychologische Therapie hilft mir dabei, das System wiederherzustellen, ein Reset zu veranlassen und die Ursache des Absturzes zu ergründen, und einen Short-Cut für die Behebung dieser Störung zu speichern und in meinen Koffer zu packen.
Meistens sehe ich erst dann: #peoplepleasingalert. „Eines deiner verinnerlichten Verhaltensmuster dreht auf. Es ist Zeit, den fehlerhaften Code zu überschreiben.“
Zurück zum Weihnachts- und Jahresendstress. Im Alltag habe ich mittlerweile ein Umfeld, dass mein Verhaltensmuster kennt und überwiegend Rücksicht nimmt, statt mein Peoplepleasing-Verhalten auszunutzen. Außerdem auch Verständnis dafür hat, wenn der Stresspegel überschwappt und ich mich spontan raus aus dem „für und mit anderen“-Modus nehme und rein in den „nur für mich“-Modus bringe, um aus eigener Kraft wieder klarzukommen und einen Absturz noch zu verhindern. #Konsens. Ein „Nein“ sollte immer okay sein. Beziehungsweise ein „Ja” nicht von vornherein erwartet werden, auch nicht im Kontakt zu mir selbst. Meistens mache ich mir ja den Druck, „ja“ sagen zu müssen und nicht „nein“ sagen zu können ja selbst. Ein „Ich will erst mal ’ne Nacht darüber schlafen und schauen, wie´s mir damit geht“ hilft da meistens schon.
Wenn ich aber im Außen das Gefühl bekomme, ein „Nein“ sei nicht okay. Beziehungsweise sage ich „ja“ aus Ängsten vor Ablehnung und Verlust oder gar sträflich angewandten Konsequenzen. Dann tue ich mir diesen Stress nur zu ausgewählten und fest eingegrenzten Zeiten an. Dabei bin ich mir bewusst, dass ich für diese Herausforderungen genügend Vorlauf, meinen Selbstfürsorge-Erste-Hilfe-Koffer und ausreichend Nachlauf brauche, um aufgeladen zurück in meinen Alltag zu starten.