Mein Nachbar

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(c) Martina Roell:  Häuser  (CC BY-SA 2.0)

Mein Nachbar

Mein Nachbar wohnt seit fünf Jahren im gleichen Haus.

Oder sind es schon sechs?

Ich weiß es nicht. Mein Nachbar heißt Ibrahim.

Das steht auf einem Schild vor seiner Haustür.

Seinen Nachnamen kann ich nicht aussprechen. Ich vermute, es ist arabisch.

Wir sehen uns gelegentlich im Flur unseres Hauses.

Er grüßt höflich, ich grüße höflich zurück.

Ein Gespräch hat sich bisher nicht ergeben.

Warum? Ich weiß es nicht. Obwohl ich schon ein paar Fragen hätte.

Ich würde ihn gerne fragen, wo er aufgewachsen ist oder was er beruflich macht.

Dass er arbeitet, habe ich schon mitbekommen.

Er verlässt in der einen Woche morgens das Haus und kommt

nachmittags wieder.

In der anderen Woche verlässt er mittags das Haus und kommt

spät abends wieder. Das lässt auf Früh- und Nachtschicht schließen.

Manchmal bekommt mein Nachbar Besuch.

Dann riecht es im Flur nach Essen und fremden Gewürzen.

Und es kommen Menschen, die mir ähnlich fremd erscheinen. Sie wirken auf mich

einfach anders.

Ich grüße sie höflich, sie grüßen höflich zurück.

Was machen all diese Menschen hier? Und was ist der Grund, warum sie hier sind?

Ist es wegen der Arbeit? Oder sind sie vor einem Krieg geflohen? Ich weiß es nicht.

An einem Sonntag stelle ich fest, dass mir Milch fehlt.

Kaffee ohne Milch ist für mich ungenießbar.

Ich klopfe bei Frau Meier an, doch sie scheint heute nicht zuhause zu sein.

Sie besucht bestimmt ihren Neffen Manfred, Manfred Neumann.

Er kümmert sich um sie, seitdem ihr Mann Herbert letztes Jahr an Krebs verstorben ist.

Ich klopfe bei Ibrahim an. Es kostet mich sehr viel Überwindung.

Für einen Augenblick überkommt mich der Gedanke, wieder weg zu gehen. Aber ich bleibe.

Er macht die Tür auf und lächelt.

„Guten Morgen!“, sage ich.

„Guten Morgen!“, sagt er.

„Ich brauche Milch. Hätten sie vielleicht welche für mich? Ohne Milch ist Kaffee ungenießbar!“

„Da haben sie recht!“, erwidert er, „Kaffee ohne Milch geht gar nicht! Ich habe gerade Kaffee gekocht. Kommen sie doch bitte rein, wir können gerne einen zusammen trinken?“

Er lächelt und weist mir mit seiner Hand den Weg in die Wohnung. Ich lächele zurück und gehe hinein. Es riecht nach fremden Gewürzen. Ich merke, wie meine Neugier sich breit macht. Vielleicht kann ich zum essen bleiben.

Text von Jeremy

 

Wir wollen Zukunft gestalten!