Manchmal haben wir’s nicht leicht mit unserem Selbstwertgefühl. Obwohl wir Spaß an etwas haben, geben wir Träume so oft aus Angst davor auf, nicht gut genug zu sein. Wie aus dieser Angst aber Mut werden kann, wie wir uns aktiv für UNS und gegen die fiese Stimme in uns drin entscheiden können, das hat Dorian von Was geht Almanya sehr eindrucksvoll aufgeschrieben.
(Der Text stammt aus dem Buch „Aus Angst wächst Mut„, erschienen im Luther-Verlag.)
Mein Handy klingelt. Gandhi ruft an. Nehme ich ab oder nicht? Eine innere Stimme sagt mir: Geh nicht ran. Dorian, was ist los mit dir? Du hast demnächst einen Auftritt. Du hast nicht gelernt, hast Angst dort hin zugehen und du warst noch nicht mal bei einer Probe! Eine andere Stimme hingegen sagt mir: Geh hin, sie brauchen dich. Du brauchst sie. Und wieder die erste Stimme: Ach, hör auf zu träumen und sag ab. Geh ran und sag ihm, du kannst heute nicht. Denn seien wir mal ehrlich, du kannst doch eh nichts.
Ich gehe in meinem Zimmer hin und her und überlege angestrengt, wäge alles ab. Brauchen sie mich, oder hat die andere Stimme in mir doch Recht? Ich bin mir unsicher und gucke in meinen Spiegel. Ich sehe mich. Einen jungen Mann, gerade mal fünfzehn. Ich komme mir anders vor, so unsicher vor einer Entscheidung zu stehen und mich festlegen zu müssen. So bin ich nicht und so wollte ich auch noch nie sein. Meine Gefühle positionieren sich und kämpfen gegeneinander. Auf der einen Seite die eine Stimme, die mir sagt: Geh‘ jetzt da raus und zeig es ihnen! Lass deinen schauspielerischen Talenten freien Lauf! Du kannst es doch. Und du wirst es schaffen. Vergiss nicht, du hast es versprochen. Sie, die anderen, verlassen sich auf dein Wort. Auf der anderen Seite höre ich die andere Stimme, die mich mit einem erhobenen Zeigefinger und von oben herab runtermacht. Sie sagt: Die anderen denken doch sowieso, du kannst nichts. Sie warten nur auf einen Fehler. Auf einen schwachen Moment, um dich zu zerfleischen. Wie ein Rudel Hyänen, das sich auf seine wehrlose Beute stürzt, um sie zu zerreißen. Du hast doch eh Angst.
Mein Handy klingelt erneut und reißt mich aus meinen Gedanken heraus. Gandhi ruft wieder an. Ich reagiere nicht. Sekunden vergehen zäh wie Kaugummi. Das Klingeln trifft meine Nerven wie Nadelstiche. Was sage ich jetzt? Eine Stimme meldet sich zu Wort: „Komm, nimm ab und sag, dass du in zehn Minuten bei der Probe sein wirst und dass du dich bereits freust!“ Doch die andere Stimme erwidert: „Lass es sein! Er könnte deine Rolle locker mit jemand anderem ersetzen. Mit jemandem, der deutlich mehr Talent hat als du. Tu dir diese Qual nicht an!“ Ich schwimme in einem See voller Scham und Unsicherheit. In treibe auf einem Meer voller Unzufriedenheit, Sehnsüchte und Wünsche. Zwei verpasste Anrufe von Gandhi auf meinem Sperrbildschirm, die mich anstarren und mich nicht in Ruhe lassen.
Ich setze mich auf mein Bett, falte die Hände zusammen und denke an die Theatergruppe. An all die Leute, die ich kennen gelernt habe und die sich darauf verlassen, dass ich mitwirke. Was werden sie über mich denken? Hat Gandhi ihnen schon erzählt, dass ich einfach nicht ans Handy gehe, oder wird er gleich noch einmal anrufen? Und was denkt er, warum ich nicht rangehe? Macht er sich Sorgen? Ich erinnere mich an die Worte meines älteren Bruders. Er kennt Gandhi von einem anderen Projekt, bei dem er vor Jahren mitgemacht hat. Bei Gandhi sind immer coole Leute, meinte er! Das kann sein. Aber er kennt die Leute, mit denen ich jetzt arbeite, doch gar nicht. Würde er sie auch als cool bezeichnen? Und was ist überhaupt cool, was heißt das schon?
Trotzdem merke ich, wie die Sehnsucht nach dem Auftritt und nach den Leuten, die ich anstatt als cool eher als freundlich, lustig und aufgedreht bezeichnen würde, steigt. Ja, ich möchte dabei sein. Ich werde anfangen meinen Text zu lernen. Ich möchte allen beweisen, dass ich es kann. Und in erster Linie mir selbst. Und du, der Zweifler in mir, hältst jetzt einfach die Klappe!
Gandhi ruft wieder an, bereits das dritte Mal innerhalb einer Stunde. Ich merke, dass es ihm ernst ist. Es ist eher ungewöhnlich, dass er sich so oft meldet. Er arbeitet ungern mit Druck. Mir wird immer deutlicher, wie ernst es auch mir wird. Wie von selbst nehme ich das Handy in die Hand und drücke auf die grüne Annahmetaste meines Telefons. Ist er sauer, wird er mich anschreien? Ich habe Angst, empfinde aber auch gleichzeitig Mut, mich dieser zu stellen. Ich höre Gandhis Stimme: „Dorian?“ Meine anfängliche Unsicherheit verschwindet mit der Wärme seiner Stimme. Ich antworte langsam: „Ja?“ Gandhi fragt: „Kommst du heute zur Probe? Ich habe eine spannende Szene und würde dich dort sehr gerne einbauen. Du bist dafür die Idealbesetzung.“ Ich fasse meinen Mut zusammen und antworte, in der Hoffnung entspannt und selbstbewusst zu wirken: „Ja, klar, ich bin heute dabei. Mein Bus kommt in zehn Minuten?“ Ich kann regelrecht seine Freude und Erleichterung spüren, als er erwidert: „Ok, wir freuen uns und warten auf dich. Bis gleich!“ Als er auflegt, fühle ich, wie eine große Last von mir abfällt. Ich bin erleichtert und spüre, wie die Glückshormone mit rasender Geschwindigkeit durch meinen Körper jagen. Ich weiß jetzt, ich muss mir keine Gedanken mehr machen. Ich kann gleich zur Probe fahren und selbstbewusst beim nahenden Auftritt auf der Bühne stehen. Ich habe keinen Druck mehr und fühle mich frei.
Entschlossen ziehe ich meine Sneakers an und streife mir eine Jacke über. Dann gehe ich zu meiner Mutter, gebe ihr lässig einen Kuss auf die Wange, verabschiede mich von ihr, verlasse die Wohnung und schließe die Tür hinter mir. Am Ausgang bleibe ich einen Augenblick stehen und atme tief durch. Dorian, du bist ein verdammt cooler Typ, denke ich. Der Bus kommt und ich steige ein. Im Bus werde ich von einigen Menschen angelächelt, ich vermute, weil ich aus allen Poren meines Körpers strahle. Es fühlt sich gut an. Nach fünfzehn Minuten komme ich an der Halle an. Ich stehe vor dem Eingang und atme tief durch. Danach betrete ich den Raum und merke den Leuten die Freude über meine Anwesenheit an. Ich werde von allen mit einem Lächeln im Gesicht empfangen. Ein Lächeln, das mir zeigt, dass ich alles richtig gemacht habe.
Nacheinander nehmen sie mich in den Arm und freuen sich, dass ich da bin. Gandhi kommt auf mich zu, nimmt mich ebenfalls in den Arm und sagt: „Schön, dass du da bist!“ Ich antworte: „Es tut mir leid, dass ich zu spät bin. Bei der nächsten Probe werde ich pünktlich sein.“ Ich bekomme meinen Text und gehe auf die Bühne. Dort fange ich an zu spielen, zuerst etwas unsicher, doch im Verlauf der Probe immer souveräner. Und dann überkommt mich das unbeschreibliche Gefühl, angekommen zu sein.
Mehr dazu:
- Hätten Menschen nicht ihre Träume verwirklicht, wäre womöglich so einiges gar nicht erst ins Rollen gekommen, wie dieses Beispiel beweist.
- Die eigene Identität zu entdecken kann schon ziemlich viel Mut erfordern, findet auch Bahar von Was geht Almanya.