Während eines langersehnten Familientreffes erfährt Memo, dass seine Cousine bald heiraten wird. Zwar kenne sie ihren zukünftigen Ehemann noch nicht, die beiden seien einander aber bereits seit ihrer Geburt versprochen. Dieser Text aus dem Buch „Aus Angst wächst Mut“ beschreibt eindrucksvoll die Zerrissenheit zwischen Familie, Tradition und dem Wunsch, das eigene Leben frei zu gestalten.
Ich saß im Wohnzimmer und schaute zum Fernseher. Es lief eine berühmte arabische Comedy Serie. Sie handelte von einer wohlhabenden Familie in Kairo, die mit den alltagsüblichen Problemen der Gesellschaft zurechtkommen muss. Die eher modernen Kinder beschäftigten sich mit den für die Altersklasse typischen Problemen von Teenagern. Die Eltern konnten dafür wenig Verständnis aufbringen, da ihre Generation mit anderen Themen zu kämpfen hatte. Der Humor der Serie basierte eigentlich darauf, dass die sozial-gesellschaftlichen Probleme der Familie übertrieben oder ironisch dargestellt wurden. Es war keine Serie, die für mich wirklich einen hohen Unterhaltungswert hatte, ich war vielmehr von einem sehr bekannten Phänomen betroffen, das wir heute hinlänglich als Langeweile kennen.
An sich fehlte mir nur etwas Geborgenheit. Nicht die Geborgenheit, an die man denken würde, wenn man sich alleine gelassen fühlt. Es war vielmehr die Wärme, die man verspürt, wenn das eigene Heim mit Leuten gefüllt ist, die man liebt und mit denen man groß geworden ist. Ich wusste aber schon zu dem Zeitpunkt, dass wir Besuch von meinem Onkel bekommen würden. Meine Vorfreude war daher groß. Dieser Mann war derjenige, dessen Humor jegliche Vorstellungskraft überstieg. Es war dieses Zusammenspiel von Gesten und Sprüchen, die meinen Onkel sympathisch und im gleichen Maße charmant wirken ließen. Ja, es war wohl tatsächlich diese Geborgenheit, nach der ich mich sehnte.
Genau in diesem Moment klingelte es an der Tür und meine lang ersehnte Familie traf ein. Ich konnte mich noch daran erinnern, als wir noch Kinder waren, wie meine Cousine und ich von meinem Onkel stetig herumgetragen wurden und wir zusammen mit ihm zu dem Spielplatz gingen. Die Freude, die ich in diesem Augenblick in meinem Herzen spürte, fühlte sich genauso an, wie die, die ich als Kind verspürte. Wie bei meiner Familie üblich, standen schon Berge von Essen bereit, die meine Mutter in einer erschreckenden Hektik zubereitet hatte. Nachdem wir uns das leckere Mahl zugute kommen ließen, gingen wir wie gewohnt ins Wohnzimmer und unterhielten uns bei einem Tee.
Die Wärme der Familie verteilte sich über den ganzen Raum und war für alle spürbar. Ich fühlte mich geborgen und sicher. Es war eine innere Zufriedenheit, die mir die Kraft gab, mich jedem Problem zu stellen. Selbst meine ältere Cousine war da. Sie war hübscher geworden, leicht verändert hatte sie sich, das musste man gestehen. Als Kinder haben wir uns erbitterte Kämpfe geliefert. Sie war so taff wie schon als Kind und man merkte, dass sie genau denselben Humor wie den ihres Vaters hatte. Es war eine Fülle an Themen, über die wir sprachen, einige waren wichtig, andere dienten einfach nur der Unterhaltung.
Plötzlich hörte ich meinen Onkel mit einer übermütigen Stimme sagen, dass meine Cousine heiraten werde. Ich registrierte seine Worte und begann nachzurechnen, wie alt sie mittlerweile sein musste. Sie kann höchstens 17 Jahre alt sein, dachte ich. Ihr zukünftiger Verlobter sei 23 Jahre alt, hörte ich ihn sagen. In mir baute sich eine leichte Spannung auf. Mir war nicht klar, ob diese Ehe auch eine gewollte Ehe war. Meine Neugier wuchs. Mein Onkel fügte in einem Nebensatz hinzu, dass weder der Verlobte meine Cousine kennen würde, noch kenne sie ihn. Er sei der Sohn eines guten Freundes, fügte er hinzu. Sie waren schon seit Tag eins einander versprochen. Misstrauen machte sich bei mir breit. Ich fühlte mich genötigt, etwas sagen zu müssen. Mir war nicht bewusst, ob dieser Mann, der in unserem Wohnzimmer saß, derjenige war, der gutherzig jedes Vergehen meinerseits verzieh. War dieser Mann wirklich mein moralisch vorbildlicher Onkel?
,,Wollten sie das?“, fragte ich. Plötzlich hörte das Gelächter auf. Die Gesichter aller Beteiligten wurden ernst. Es war so, als ob ich mit meiner Frage etwas Abscheuliches und Menschenverachtendes gesagt hätte. Die Wärme verschwand aus dem Zimmer. ,,Ich habe der Familie mein Ehrenwort gegeben“, rief er. In diesem Augenblick konnte ich meine Anspannung nicht mehr unterdrücken. Ich musste einfach Gewissheit haben. ,,Ist es freiwillig?“, fragte ich ihn erneut.
,,Es ist das Richtige!“, rief er. ,,Wer bestimmt das?“, entgegnete ich. Die Wärme verschwand nun komplett aus dem Raum und wich einer ungeahnten Kälte. Aus Sicherheit wurde Angst. Aus Geborgenheit Ungewissheit. Mir war nicht klar, ob selbst meine Eltern zu mir halten würden. Alle hörten auf zu reden. Stille. Ihre Blicke trafen mich wie Fausthiebe, prasselten von jeder Seite auf mich ein. Gesichter mit Masken der Verwunderung, die den Beigeschmack des Zorns enthielten. ,,Es ist Tradition, unsere Tradition“, rief mein Onkel. Sie müssen sich nicht kennen? Ist das wirklich Tradition? Sind das die Normen und Gesetzte, die wir als human empfinden?
Ich überlegte kurz, bevor ich diesem Mann, der mein Onkel war und den ich vorher als fürsorglichen Familienmenschen kannte, die Stirn bot. ,,Wessen Tradition?“, rief ich. Erneut Stille. Ein eisiger Schleier zog sich über den Raum. Alle riefen zur selben Zeit: ,,Du bist respektlos!“ Ihre Worte fühlten sich an wie eine geballte Wand aus Abneigung und Verachtung. Alle sahen in mir eine Art Verräter, der gegen ihre Wertvorstellungen verstößt.
Ich wusste ab dem Moment, das ich alleine mit meiner Haltung stehen werde. Und mir war auch klar, dass meine von nahöstlicher Kultur geprägte Familie nicht die Art von rationalem Denken verspürte wie ich. Kurz darauf entgegnete mein Onkel: ,,Er wird ihre Ehre bewahren, ihren Stolz vollenden. Er wird eine richtige Frau aus ihr machen.“
Ehre? Stolz? Dies hatte für mich nicht mit Ehre und Stolz zu tun. Es war lediglich ein traditionelles Konzept, welches der jüngeren Generation aufgestülpt werden sollte. Ehre und Stolz, das sind subjektive Begriffe, die ich mit einem mal als lächerlich empfand. Eine Verschleierung des Systems Patriarchat. Nicht mehr. Im Endeffekt ging es um das Wort meines Onkels, das ihm wichtiger war als das Glück seiner Tochter. Ich fühlte eine tiefe Zerrissenheit. Auf der einen Seite hatte ich den Mann vor mir, der so liebevoll war und der so gut wie alles für die Familie tun würde. Aber auf der anderen Seite war mir bewusst, dass er einer anderen Generation entstammte, die vom Patriarchat geprägt war. Ich verspürte Wut. Endlose Wut, die ich nicht zurückhalten konnte.
Diese Begebenheit hat in mir eine wichtige Einsicht bewirkt: Ich habe keinen Drang danach, mich mein gesamtes Leben lang unterzuordnen. Ich möchte über Tabus reden können. Ich möchte als selbstständiger Mensch angesehen und gerecht behandelt werden. Ich möchte in einer Kultur leben, in der Partnerschaft, Liebe und Gleichheit selbstverständlich sind. Ohne Schuld und Schamgefühle. Eine Zwangsehe wird es für mich nicht geben. Dafür bin ich bereit zu kämpfen.
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