Alina: Gut genug?!

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(c) laura redburn:  plant  (CC BY-NC-ND 2.0)

Wie können wir ankämpfen gegen all die Stimmen, all die Menschen, die uns jahrelang eingeredet haben, wir seien nicht ‚gut genug‘, nicht stark genug, nicht schnell genug, einfach grundsätzlich nicht ausreichend? Was macht all dieser Stress mit unserem Körper – gerade dann, wenn wir noch jung und im Wachstum sind? Wie können wir mit übergriffigen und unangenehmen Erfahrungen, die wir haben machen müssen, umgehen? All diese Fragen versucht dieser beeindruckende Text von Alina zu beantworten. 

Ich bin 5 Jahre alt und mir wird gesagt, dass ich nicht gut genug bin. Ich frage mich warum, doch ich verstehe nicht. Ich bin 6 Jahre alt und mir wird gesagt, dass ich es, wenn ich weiterhin so bin wie ich bin, es nicht weit bringen werde. Ich frage mich warum, doch ich verstehe nicht.

Ich bin 8 Jahre alt und mir wird gesagt, dass ich unter der Brücke landen werde, wenn ich mich nicht ändere. Ich frage mich warum, doch ich verstehe nicht. Aber ich glaube es. Ich bin 11 Jahre alt und werde zum ersten Mal wegen Depressionen zu einem Therapeuten verwiesen. Ich soll reden und zuhören. Das tue ich, doch ich verstehe nicht.

Ich bin 13 Jahre alt und sitze in der Bahn. Ein Mann kommt auf mich zu und fragt mich, wie viel Geld ich dafür haben möchte, dass ich mein T-Shirt ausziehe. Ich spüre, wie sich ein mulmiges Gefühl in meinem Magen breit macht und sage ihm, dass ich das nicht möchte. Der Mann lässt nicht locker, er setzt sich neben mich und nennt mir immer höhere Geldbeträge. Ich lüge und sage, dass ich jetzt aussteigen müsse. Ich stehe auf und suche mir fernab von ihm einen anderen Sitzplatz.

Ich bin 14 Jahre alt und meine Noten gehen immer mehr in den Keller. Ich muss mich bei jeder Klausur vor Nervosität mehrfach übergeben. Ich soll tief ein und ausatmen, die Ruhe bewahren und nicht nervös werden, während ich permanent rund um die Uhr von allen beurteilt und bewertet werde.

Ich bin 14 Jahre alt und sitze im Unterricht. Ein Klassenkamerad neben mir legt seine Hand auf meinen Oberschenkel und lässt sie immer weiter nach oben gleiten. Ich spüre, wie sich mein Körper anspannt und eine Abscheu in mir breit macht, und ich sage ihm, er solle das lassen. Er schaut mich nur an und erwidert: „Na, schüchtern?“. Wut macht sich in mir breit und es fällt mir schwer, mich zu beherrschen. „Entweder du nimmst jetzt ganz schnell deine Hand da weg oder wir beide bekommen gleich ein richtiges Problem.“, sage ich aufgebracht. Er grinst mich an und nimmt dann nach kurzem Zögern seine Hand endlich weg.

Ich bin 14 Jahre alt und werde von einem jungen Mann permanent angeschaut. Ich schaue weg und setze meine Kopfhörer auf, um mein Desinteresse zu zeigen. Er setzt sich neben mich und fragt, was ich hier denn so alleine mache. Ich antworte nicht und verhalte mich so als hätte ich ihn nicht gehört. Er tippt mir auf den Oberschenkel und fragt, ob ich nicht Lust hätte mit ihm etwas trinken zu gehen. Ich sage: „Nein!“, und bin dankbar, als der Bus meine Haltestelle erreicht und ich flüchten kann.

Ich bin fast 15 Jahre alt und mein Körper fängt an, in Stresssituationen in Ohnmacht zu fallen. Einen kompletten Kontrollverlust durch psychosomatische Krampfanfälle, nannten es die Ärzte. Mein Körper will sich abschalten und Konflikten, Klausuren oder ähnlichen Stresssituationen aus dem Weg gehen.

Ich bin 15 Jahre alt und warte in der Innenstadt auf eine Freundin. Ein alter Mann schaut mich beim Vorbeigehen an, dreht sich um und kommt auf mich zu. „Entschuldigen Sie, Sie sehen so sexy aus. Ich leite einen Escort-Service.“ Wie aus der Pistole geschossen sage ich laut: „Nein!“. „Freundlicherweise“ erklärt er mir, dass ich auch nichts machen müsse, was ich nicht möchte. „Ich möchte das gar nicht machen.“, antworte ich bestimmt. Er schaut mich enttäuscht an und reicht mir seine Visitenkarte mit den Worten: „Falls Sie es sich anders überlegen.“

Ich bin 15 Jahre alt und gehe durch eine Unterführung, als ich einem Jungen begegne, mit dem ich einmal über meinen Glauben, meine Sexualität und wie das denn zusammen passen würde, diskutiert habe. Er nennt mich eine „dreckige Lesbe“ und kommt bedrohlich mit einem Schlagstock auf mich zu. Ich laufe weg und verlasse aus Angst eine Woche lang das Haus nicht. Danach zwei Wochen lang nur mit Begleitung.

Ich bin 16 Jahre alt und mir wird im Club in der Anonymität der Menschenmasse an den Hintern  gefasst. Ich drehe mich um, doch von dem Täter keine Spur. Ich wende mich wieder meinen Freunden zu, tanze weiter und weiß, dass ich nie rausfinden werde wer das getan hat.

Ich bin 16 Jahre alt und warte vor meinem Haus auf einen Freund. Ein junger Mann kommt zu mir und fragt mich, wie viel Geld ich wolle. Er sagt nicht, wofür, aber ich weiß genau, es geht ihm nicht um Zöpfe flechten. Nachdem ich ihm zu verstehen gegeben habe, dass ich kein Geld von ihm möchte, kommt er noch einen Schritt näher auf mich zu. Um mich zu fragen, ob ich mir denn sicher sei. Ich antworte mir einem: „Ja!“ und wechsle die Straßenseite.

Ich bin 16 Jahre alt und auf einer Geburtstagsfeier küsst mich ein Bekannter. Er presst sich immer mehr an mich so als wären meine ihn weg drückenden Arme kein eindeutiges Zeichen das ich das nicht will.

Für viele Männer ist es unverständlich warum wir Frauen auf ein Pfeifen oder eine Bemerkung so empfindlich reagieren, für euch mag es vielleicht das eine Mal sein, aber für uns ist es das 10. oder 100 Mal. Und ich bin es satt, das manche Herren der Schöpfung meinen, dass mein „Nein!“ nicht deutlich genug ist. Ich bin es leid, dass manche denken, dass mein Körper öffentliches Eigentum ist und dass mich jeder anfassen darf, wie er Lust hat. Und dass man ja noch fünfmal nachfragen muss, ob ich nicht doch meine Nummer rausgeben möchte. Oder ob ich nicht sogar Lust hätte, direkt mit zu ihm zu gehen. Mein Körper gehört mir, und es ist allein meine Entscheidung, was damit passiert und wer mir wie nahe kommen darf.

Eineinhalb Jahre lang bin ich mindestens einmal in der Woche in Ohnmacht gefallen und ohne fremde Hilfenicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Und all das nur, weil mir immer suggeriert wurde, dass ich nicht gut genug sei. Ich habe mich unter Druck gesetzt und mir innerlich immer so einen Stress gemacht, weil ich gut genug sein wollte. Ich wollte, dass meine Familie stolz auf mich ist. Diese Belastung hat meinen Körper nur dazu gebracht, mir physisch zu zeigen, dass es so nicht weitergehen kann.

Und mein Körper hatte Recht. So will ich nicht leben. Denn ich bin gut genug, und ich bin zufrieden mit mir. Es ist mir egal, was manche von mir halten, denn ich weiß, wer ich bin und was ich alles geleistet habe, um heute hier zu stehen. Und ich bin mehr als nur das, was ihr in dem einen Moment seht, in dem ihr über mich urteilt.

Ich bin 17 Jahre alt und mir wird gesagt, dass ich stolz auf mich sein kann. Ich frage mich, warum. Ich blicke zurück und verstehe. Und ich glaube es. Denn ich weiß, dass ich stark bin, Ich weiß, wenn ich es bis hierhin geschafft habe, ich es auch noch viel weiter schaffen werde. Und so sehr ich mir manchmal wünsche, dass ich diese Dinge nicht gesagt bekommen hätte, oder dass manche Situationen nicht passiert wären, bin ich doch auf eine Weise dankbar. Denn nur durch all das, was ich erlebt habe, bin ich zu dem Menschen geworden der ich heute bin. Und sie hatten Recht damit, ich kann stolz auf mich sein. Und das bin ich auch.

Ich bin stolz, dass ich stark bin. Ich bin stolz, dass ich laut bin. Ich bin stolz, dass ich mich entwickelt habe. Ich bin stolz, dass ich öfters etwas chaotisch bin. Ich bin stolz, dass ich ehrlich bin. Denn all das macht mich aus. Ich bin stolz, dass ich so bin wie ich bin.

Ich bin 17 Jahre alt und ich bin ich! Ich bin gut genug!

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