Glück und Unglück liegen bekanntlich nah beieinander. In Zeiten von Corona, Lockdown und Kontaktsperre aber womöglich noch ein bisschen näher als sowieso schon, oder? Unsere Autorin Mare schreibt über ihre Gefühle, Ängste und Sorgen – um sich selbst, um ihre Familie und ihre Mitmenschen. Und sie schreibt auch darüber, wie wichtig es besonders in Krisenzeiten ist, das kleine Glück zwischendurch zu erkennen und in vollen Zügen zu genießen.
Früher als kleines Kind hatte ich manchmal Alpträume, in denen meine Eltern oder Großeltern starben. Es passierte nicht regelmäßig und auch nicht wegen irgendeines schlimmen Ereignisses in meiner Vergangenheit, immerhin verlief meine Kindheit relativ friedlich und die erste Beerdigung eines Verwandten besuchte ich erst mit 15. Und trotzdem. Manchmal wachte ich weinend auf, überwältigt von dem Gefühl zurückgelassen worden zu sein von Menschen, die ich liebte.
Manchmal wachte meine Mutter von meinem Schluchzen auf, manchmal tapste ich zu meinen Eltern ins Bett. Aber immer wusste meine Mutter, was ich hören wollte. „Wir sind doch noch hier“, sagte sie und nahm mich in den Arm, „und du weißt doch, was meine Mutter immer gesagt hat: Wenn jemand im Traum stirbt, heißt das, dass dieser Mensch ein langes, glückliches Leben führen wird.“ Schon als kleines Kind glaubte ich nicht wirklich daran, dass Träume etwas bedeuten. Und trotzdem tat es jedes einzelne Mal gut, die Worte zu hören. Sie beruhigten mich. Sie gaben mir Sicherheit. Genauso wie die Umarmung meiner Mutter.
Gestern Nacht träumte ich, dass meine beiden Eltern starben. Waise. Dachte ich im Traum. 24 und Waise. Ich wachte weinend auf. Alleine. Mein Verlobter war schon im Frühdienst. Er hatte sonst nie Frühdienst, aber jetzt ist er systemrelevant. Auch ein merkwürdiges Wort. Wie Waise. Es gehört nicht in meine alltäglichen Gedanken, soll dort nichts zu suchen und doch ist es jetzt ständig da. Genauso wie Zuhause-Instagramsticker, rissige Handinnenflächen und das unsichtbare Schwert, das über zu vielen von uns hängt: Risikogruppe.
Am nächsten Morgen schrieb ich meiner Mutter. „Ich habe heute Nacht geträumt, dass ihr beiden gestorben seid ☹“. Ich erwartete keine Umarmung. Nur schwarze Worte auf weißem Bildschirm. Aber dieselben Worte von eh und je. Irgendwas musste mich beruhigen, mir in diesen merkwürdigen Zeiten Sicherheit geben. „Wir tun alles was wir können“, antwortete sie mir, „aber wenn es doch irgendwann mal soweit ist, möchten wir, dass du weißt, dass wir uns wünschen, dass du ein langes, glückliches Leben führst.“ Ich hatte keine Umarmung erwartet. Nur schwarze Worte auf weißem Bildschirm. Aber ich wollte lieber meine Eltern umarmen. Und durfte es trotzdem nicht.
Heute Morgen bin ich aufgewacht. Nicht weinend aus einem Albtraum, sondern sanft aus einem erholsamen Schlaf. Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich der Mensch umgewöhnen kann, dachte ich, als ich mich freute, Klopapier kaufen zu können. Heute war ein guter Tag, ein erholsamer Tag. Voller Whatsapp-Sprachnachrichten, Verlinkungen zu dummen Instagram-Challenges und sogar einer Party-Einladung. „Heute, 20 Uhr, soll ich dich zu unserem Discord-Server hinzufügen?“
Heute war ein guter Tag, ein erholsamer Tag. Die Welt hat schon immer geendet, las ich erst vor Kurzem in einem Gedicht und irgendwie gab es mir Kraft. Die Situation fühlt sich zwar katastrophal an, aber die Menschheit hat es schon durch viele Katastrophen geschafft. Zeitgleich fühle ich mich schuldig. Manchmal ist mir sowas schon früher passiert, aber in letzter Zeit immer häufiger. In den kleinen und großen Momenten, in denen ich Glück finde, oder auch nur Ablenkung, spricht die Stimme in meinem Kopf. Du bist nur gerade hier, weil andere Menschen leiden oder sogar sterben müssen. Denk an die ganzen Menschen, die jetzt ihren Job verlieren, oder die ganzen Menschen, die sich noch infizieren werden. Was ist mit Menschen, die schon vorher nichts hatten? Und was ist mit deinen Eltern? Eine Sekunde mal nicht besorgt sein, wenn deine Eltern gefährdet sind! Was bist du denn für eine Tochter?
Ein langes, glückliches Leben führen. Das wollen wir eigentlich alle. Für uns, und für die Menschen, die wir lieben, und eigentlich auch für all unsere Mitmenschen. Und dafür müssen wir jetzt kämpfen. Indem wir Künstler*innen und Kulturschaffende aus unserer Gegend unterstützen oder an Gabenzäune für Obdachlose in unserer Umgebung spenden. Indem wir online gegen die Zustände an unseren Außengrenzen protestieren oder Petitionen zu unseren Herzensthemen unterschreiben. Aber nicht jede*r ist dazu in der Lage. Weil Geld oder Zeit fehlt, oder schlicht und ergreifend die Nerven. Aber das ist egal. Denn wir alle helfen trotzdem. Indem wir die Regeln einhalten, die wir alle schon oft genug gehört haben. Und indem wir nicht die Menschen umarmen, um die wir uns am meisten sorgen, selbst wenn wir uns nichts sehnlicher wünschen.
Aber auch, indem wir das kleine Glück, das wir manchmal finden, nicht wegwerfen. Denn auch um uns selber müssen wir uns kümmern. Das schulden wir auch den Menschen, die sich um uns sorgen.
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