Falsch sein

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Raphael Renter via Unsplash

Dieser Text von unserer Autorin Lina erzählt die Geschichte einer jungen Person aus Mockau, Leipzig. Zuhause wird sie ‚Sophie‘ genannt, doch sie selbst nennt sich Gerrit. Und Gerrit ist auf der Suche. Nach Freund*innen, nach Zugehörigkeit, nach sich selbst, immer getrieben von der Sehnsucht, endlich keine falsche Rolle mehr spielen zu müssen. Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen!

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Es fängt bei dem ungeliebten Onkel an, bei welchem du jedes Mal vorgeben musst, alles, was er sagt, lustig zu finden oder zumindest nicht auf seine stichelnden Aussagen auf die Politik bezogen zu reagieren.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Kleine Splitterpersönlichkeiten in unterschiedlichen Freundeskreisen. Tiefes Durchatmen auf der Restauranttoilette, bevor es zurück geht zu der Familienfeier, bei welcher du dich ständig unter dem Tisch kneifst. Wangen die vom falschen Lächeln schmerzen.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Schule als gesellschaftliches Horrorsystem, mit strikten Kategorien im Sportunterricht gefestigt. Die Umkleide davor als Zerreißprobe der Körperscham.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

„Sophie, gibst du deinem Vater bitte die Leberwurst?“
„Sophie, zur Geburtstagsfeier deines Onkels solltest du schon ein Kleid anziehen, das gehört sich einfach so für ein Mädchen.“
„Sophie, warum bringst du denn nie Freunde von dir mit?“

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

„Sophie ist nicht mein Name“, hätte Gerrit gerne gesagt.
„Ich bin kein Mädchen“, hätte Gerrit gerne gesagt.
„Ich habe keine Freunde, die mich so nennen wie ihr mich nennt. Ich habe keine wirklichen Freunde, die nach Mockau kommen würden, hinten in die Siedlung an dem großen Wiesenplatz, vorbei, wo das Stadtteilfest manchmal stattfindet und sich dort an einen Tisch mit euch setzen würden. Ich habe keine Freunde, die mich so kennen wie ihr mich kennt“, hätte Gerrit gerne gesagt.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.
Füße wippen unruhig unter dem Esstisch, Nägel sind abgekaut.
Kapuze tief im Gesicht.
Das Zimmer voller Poster.
Eine Schublade unter dem Bett gefüllt mit Zeichnungen, Gedichten und einem Binder.
Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.
Gerrit hatte nicht das Pronomen sie.
Gerrit hatte auch nicht das Pronomen er.
Gerrit war einfach Gerrit.

Wenn du aufwächst dann lernst du falsch zu sein.

Gerrit wusste nicht, wie ihre Eltern reagieren würden.
Kein Junge, kein Mädchen.
Irgendwie dazwischen oder ganz woanders.
Über ‚solche Personen‘ riss Gerrits Vater meistens Witze oder verdrehte nur die Augen.
Niemand verstand es.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Gerrit sagte meistens wenig.
Es gibt am Oberschenkel diese Stelle, die etwas weicher ist und sich gut drücken lässt.
Flecken die so weit oben waren, dass diese selbst in der Sportumkleide unsichtbar waren.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Am Esstisch in Mockau wurde ein Filmset aufgebaut.
Gerrit versetzte sich in ihre Lieblingscharaktere und versuchte wie sie zu reagieren, wie sie zu sprechen, wie sie zu fühlen und zu handeln.
Gerrit kannte es eine Rolle zu spielen.
Klamotten, die Gerrit aufgezwungen wurden, waren die Garderobe ihrer Künstlerpersönlichkeit und Gerrit performte einwandfrei.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Das erste Mal, das Gerrit ausgesprochen hatte, dass sie nicht-binär war, war während eines Gewitters.
Trommelnder Regen gegen das Fenster in der Dachschräge und Worte, die sich gegen den Sturm fast unbedeutend anhörten.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

In der Schule war es eine andere Rolle die Gerrit spielte.
Die Rolle eines schüchternen Mädchens, welches lieber für sich blieb.
Gerrit beobachtete, wie andere ihre Rollen besser spielten.
Besonders gut waren die beiden Jungen aus der Parallelklasse, welche sich nicht zu mögen schienen und in Sportwettkämpfen immer wieder aneinandergerieten. Das was diese Jungen hinter der Schule getan hatten, als Gerrit weinend aus einem Unterricht gerannt war, taten nicht unbedingt Personen, die sich nicht mochten.
Doch was wusste Gerrit schon.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Leichtathletik Training – da hätte Gerrit drei Mal in der Woche sein gemusst.
Dort spielte Gerrit keine Rolle denn dort war Gerrit nicht.
Gerrit war bei Freunden aus ihrer Jugendgruppe oder bei der Jugendgruppe selbst.
Gerrits Rolle war bei diesen Freunden Gerrit.
Gerrit hörte zu, wie andere ihrer Freunde ähnliche Probleme hatten. Gerrit hörte zu, wie andere Freunde ausgezogen waren und das Leben lebten, von dem sie immer träumte, wenn sie durch Leipzig mit der 9 in Richtung Thekla oder in der 1 in Richtung Mockau fuhr.

Wenn du aufwächst dann lernst du falsch zu sein.

Bei Gerrits erstem CSD war sie mit ihren Freunden und musste sich 2 Tränen aus dem Augenwinkel wischen. Gerrit würde dies später nicht zugeben.
Gerrit bekam eine Regenbogenfahne geschenkt, welche mit in die kleine Schublade unter dem Bett wandern würde und war überwältigt.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Auf dem Weg nach Mockau nahm Gerrit die Sticker, welche auf Oberteil und Rucksack geklebt wurden, ab.
Die Bemalung im Gesicht hatte Kim mit einem Feuchttuch von Gerrits Wange entfernt noch während sie als Gruppe auf dem Leipziger Marktplatz standen.
Kim war dabei vorsichtig gewesen und hatte Gerrits Gesicht umgriffen.
Gerrit hatte dabei kurz vergessen zu atmen.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Gerrit lief durch die Mockauer Siedlung vorbei an der großen Wiese, auf welcher das Stadtteilfest stattfinden würde auf dem Weg zu einem weiteren Mal Esstisch mit den Eltern.
Ein weiteres Mal wippende Beine, abgekaute Nägel und nicken.
Ein weiteres Mal an dem Filmset zu Hause eine Rolle spielen.
Ein weiteres Mal Sophie genannt werden.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Gerrit würde sich irgendwann von ihrer Rolle verabschieden.
Gerrit würde irgendwann den Mut aufbringen Kim zu fragen mal was allein zu machen.
Irgendwann war aber nicht jetzt.

Wenn du aufwächst lernst du falsch zu sein.

Mehr dazu:

Ich bin Lina, studiere Mathe / Physik und bin Poetry Slammerin aus Leipzig. Mehrere Jahre habe ich eine queere Jugendgruppe geleitet und versucht junge Frauen zu empowern. Ich schreibe hier mit um Liebe zu verbreiten, Schubladen zu zerstören und euch zu zeigen, dass ihr nicht alleine seid.