Heute vor genau einem Monat, nämlich am 11.10., war der Internationale Coming Out Day. Passend zu diesem Anlass präsentieren wir euch mit Freude den ersten Beitrag unserer neuen Autorin Johanna-Maria. Sie hat sich den MDR DOK Film »Coming Out« angesehen, beschreibt im Text ihre Eindrücke aus dem Film und stellt spannende und schockierende Bezüge zu ihrem Alltag her, dem einer jungen Frau der Generation Z.
Für gewöhnlich schaue ich selten Filme. Gerade solche, die Geschlechterklischees vertiefen, keine objektive Berichterstattung vorlegen können, oder schlicht und ergreifend keinen Mehrwert in Form einer ,,Message“ liefern, sind für mich uninteressant. Fast habe ich meinen Glauben in die Filmbranche verloren, da fiel mir der Film „Coming Out“ auf dem YouTube Kanal MDR DOK in die Hände. Thematisiert werden hier die Outings unterschiedlichster junger Menschen. Während wir einige hautnah und unzensiert bei ihrem Gespräch mit Eltern/Verwandten/Freund*innen verfolgen dürfen, legen andere ihren Weg der Selbstfindung und des ,,Andersseins“ dar. Die Reaktionen der Umstehenden: Teils liebevoll, wissend, akzeptierend bis hin zu erschütternden, menschenverachtenden und hasserfüllten Aussagen.
Der Film hat mich deshalb sehr emotional mitgenommen. Reale und oftmals erdrückende Videosequenzen. Eine klare Empfehlung also, denn einen so ungefilterten Einblick erfährt man selten, dazu später mehr.
Diese Filmentdeckung möchte ich mit Verweis auf den Coming Out Day (11. Oktober) 2021 zelebrieren. Als Erinnerung daran, dass wir nicht allein sind. Mein Appell: Seid stolz auf euch, ihr seid wundervoll! Und jetzt: Viel Spaß beim Lesen meiner kleinen Stellungnahme.
Vor Kurzem wurde ich in der Schule in ein interessantes Gespräch verwickelt. Es ging um die Beinbehaarung bei Frauen*. Als Mädchen wurde ich hinzugezogen und nach meinen Erfahrungen gefragt. Es stellte sich heraus, dass die Mehrheit der in das Gespräch verwickelten (pubertierenden) Jungen dachte, Frauen* hätten keine Beinhaare und waren über die Widerlegung entsprechend schockiert. Weiter schien kein Verständnis dafür zu bestehen, dass nicht jede Frau* die Pille als Verhütungsmethode verwenden möchte. Die Nebenwirkungen seien verkraftbar und die Verweigerung ihrer Verwendung unverständlich, hieß es. Auf die Spitze wurde das Gespräch dadurch getrieben, dass mir einige Mitschüler*innen erklärten, dass sie nie Sexualkunde in der Schule gehabt hätten und von ihren Eltern nicht aufgeklärt worden wären. Schlussfolgend bleibt diesen Jugendlichen also nur die Aufklärung durch Funk und Fernsehen, worin eine große Gefahr besteht. Anders als im oben erwähnten Video führen erste Nachforschungen zu Geschlechtsidentitäten, Sexualität, Gender und der Selbstfindung aber zumeist zu eintönigen und falschen Quellen, eben dem „bereits bekannten„. Allein durch Recherchieren gelangt man durch Werbeanzeigen auf pornographisches Material, fake News, Hass, Pauschalisierungen. Das muss gar nicht offensichtlich geschehen. Oft reicht ein Klick auf die Überschrift ,,Bilder“ oder (Werbe-)Anzeigen, schon sieht man Bilder, die sexistischen Hintergrunds sind und in jungen Jahren negativ prägen; sie schaffen ein Weltbild, das als Norm dargestellt und Minderheiten ausschließen wird. Dass wir uns mit dem übermäßigen Konsum dieser Videos, Bilder und Texte keinen Gefallen tun, ist oft nicht präsent, doch dass Deutschland Weltmeister im „Porno-Gucken„** ist, ist nichts, auf das man stolz sein sollte – und birgt eine riesige Gefahr. 11 Jahre beträgt das Durchschnittsalter der Erstkonsument*innen von Pornos** und es wird ein surreales Bild von Liebe und Sex geschaffen – um nur einen Aspekt aufzugreifen. Und wieder einmal stelle ich unter Menschen fest, dass wir häufiger Diskurse führen und vor allem zuhören müssen. Das ausschweifende, aber dennoch erkenntnisreiche Gespräch im Schulgebäude wurde beendet und wir gingen befreit und erkenntnisreich auseinander. Es muss sich noch einiges ändern, insbesondere bei der medialen Darstellung.
Wieso dieser Exkurs?
Für eine ach so aufgeklärte und reife Generation Z ist das ziemlich erschreckend und dennoch Alltag. Nie hatten wir einen dermaßen unbegrenzten Zugriff auf Informationen durch das Internet. Leider bewirkt das nicht, dass wir auch wirklich informierter durchs Leben gehen, sondern online die Aspekte aufgreifen, die uns am besten gefallen und unsere Meinung, auch Algorithmen bedingt, unterstreichen. Es beginnt bei der kaum geförderten Diskussionskultur und wird dadurch fortgeführt, dass wir verlernt haben, andere Meinungen auszuhalten und zu argumentieren. Erst seit dem 01.10.2017 gilt die Ehe für alle und wir haben es trotzdem nicht vollbracht, über Geschlechtervielfalt und Gleichberechtigung zu sprechen, ohne dass eine der Fronten resigniert das Handtuch wirft. Haben noch immer keinen (Sexualkunde)Unterricht, bei dem Heterosexualität nicht die Norm darstellt. Stattdessen wird geschwiegen, ignoriert und gehofft, alles regele sich von allein. Wir definieren uns über Mode, denn bereits jede*r zweite*r Deutsche legt Wert auf Marken.*** Dabei ist Individualität so wundervoll und wichtig. Hierzu möchte ich mich auf das Video ,,Coming Out“ beziehen, denn es spiegelt bei genauerem Hinsehen genau diese Probleme wider. Immer wieder beteuern die Eltern darin, sie hätten gewusst, dass ihr Kind bereits in jungem Alter diese Wahl getroffen hätte. Gesagt haben sie ihren Liebsten davon aber nichts, von ihrer stillen Vermutung über die Sexualität und das Leben ihrer Kinder. Die Kinder/Jugendlichen betonen während ihrer Gespräche immer und immer, dass sie keine Wahl getroffen hätten, dass es falsch sei, das zu behaupten und fragen, wann denn sie [ihre Eltern] entschieden hätten, heterosexuell zu sein. Diese Aussage wird auf der anderen Seite ignoriert. So wird der Diskurs fortgeführt und übrig bleiben Wut, Frust und Verletztheit, weil man trotz eines 30-minütigen Gesprächs aneinander vorbeigeredet hat. Weil man sich jemandem anvertraut hat und statt Akzeptanz Meinungen erfährt. Ein Coming Out sollte nicht bewertet werden. Niemand hat das Recht dazu, jemanden in Bezug auf seine Sexualität und Identifikation abzuwerten und zu kategorisieren. Es ist essenziell, den Unterschied zwischen Meinung und Hass zu kennen. Es ist doch in Ordnung, nicht jede*n zu mögen, aber dann halte lieber Abstand, statt zu hassen und zu hetzen. Nicht alles, was gedacht wird, muss auch ausgesprochen werden, denn wir wissen nicht, wir es auf unser Gegenüber wirken wird.
Wir werden bereits bei unserer Geburt einem Geschlecht und einem Namen zugeordnet, beides wird auf Akten hinterlegt. Wir werden irgendwo reingepresst, dabei hat jede*r andere Wünsche, Normen, Gedanken und Probleme im Leben. Jede*r, der/die sich outet ist normal, ist liebenswert. Denn Homosexualität ist verdammt nochmal keine Krankheit. Wer ,,Schwuchtel“ als Schimpfwort verwendet ist ignorant und versucht auf den Kosten anderer inneren Druck zu kompensieren…
Es liegt nicht an Euch. Das dürft ihr niemals vergessen und deshalb steht zu dem, was ihr seid. Das kann euch keiner nehmen. Ein Outing kann sehr befreiend sein, aber man sollte sich bereit fühlen. Der richtige Moment wird kommen, wenn das erstmal nicht der Fall ist, ist das auch okay! Und wenn es dann doch nicht so läuft wie geplant: Langsam rantasten und sich Menschen suchen, die einem gut tun. Dieser Rückhalt ist unglaublich wichtig. Es sollte möglich sein, so zu leben wie man es möchte, wenn niemandem Schaden zugefügt wird. Und das ist hier absolut nicht der Fall. Befreit euch und lebt 🙂 Und ja, auch ich gehöre dieser Community an und das hier ist mein Outing: Ich bin bisexuell und glücklich damit.
Hab(t) Euch lieb.
*Frau meint hier das biologische Geschlecht
** https://www.netzsieger.de/ratgeber/internet-pornografie-statistiken
*** https://de.statista.com/infografik/25869/befragte-die-bei-kleidung-und-schuhen-besonders-aufmarken-achten/
Mehr dazu:
- Du möchtest dich gern mit Erfahrungsberichten zu Coming Outs beschäftigen? Eine kurze Reportage dazu von BR Puls gibt’s hier