Mein 19. Februar - Eine Allegorie über die Gesellschaft und Rassismus

Hanau
Leonhard Lenz  CC0

Vor zwei Jahren wurden Ferhat Ünvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kalojan Welkow, Fatih Saraçoğlu, Said Nessar El Hashemi und Vili Viorel Păun aus rassistischen Motiven ermordet. Unser Autor Moritz setzt sich, obwohl er selbst keinen Rassismus erlebt, mit dem Attentat und rassistischen Strukturen auseinander „um eigene rassistische Tendenzen weiter abzulegen, um andere aufzuklären und um mich mit Menschen, die Rassismus erleben, zu solidarisieren.“


Ich bin weiß. Ich bin privilegiert. Ich bin nicht dazu gezwungen mich mit Rassismus auseinanderzusetzen, denn ich erlebe ihn in der westlichen Welt nicht. Dennoch tue ich es, wie viele es tun. Um eigene rassistische Tendenzen weiter abzulegen, um andere aufzuklären und um mich mit Menschen, die Rassismus erleben, zu solidarisieren.
Am 19. Februar vor zwei Jahren wurden Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin durch einen von rassistischen Motiven getriebenen Terroristen ermordet. Dabei ist es wichtig das Versagen der Polizei und die mangelhafte Aufklärung immer wieder zu betonen. Es ist fünf vor 68.1 Es braucht eine neue Entnazifizierung.

Während False Balances (= es werden nur die radikalsten Randgruppen gezeigt, nicht die moderatere Mehrheit) in den Medien eine Spaltung der Gesellschaft durch die Pandemie aufzeigt und bestärkt, wurde in letzter Zeit noch weniger über das Rassismusproblem in unserer Gesellschaft gesprochen. Jeder scheint nur noch für sich einzustehen

Auf der Kundgebung spüre ich eine düstere Atmosphäre. Im Hintergrund schreit jemand laut auf, ich verliere die Illusion von Sicherheit für einen kurzen Augenblick. So muss es seit dem Anschlag vielen Menschen in unserer Gesellschaft gehen.
Die Banner sind vor dem Mikrofon gespannt, sodass niemand die Sprecher*innen sehen kann. Ein Denkmal steht im Vordergrund. Die Namen der Opfer sind dabei ein mahnendes Mantra geworden, das an sie erinnert und die Brutalität aufzeigt, mit der sie aus dem Leben gerissen wurden. Es ist wichtig die Namen weiterzutragen, denn diese Morde sind kein Einzelfall, sie sind ein Indikator für die Sphäre unseres Problems.
Die Kundgebung endet und die Namen werden nochmal im Sprechchor genannt: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin.
Ich kann viele Namen nicht perfekt aussprechen. Ich schäme mich.

Um ein Uhr in der Nacht fahre ich mit der S-Bahn zum Marktplatz. Ich steige aus, denn mein Fahrrad steht in der Nähe. Ich sehe das Denkmal wie 6 Stunden zuvor. Ein paar Bilder der Opfer sind vom Wind umgefallen. Nahezu alle Kerzen sind aus.
Ein so schönes Denkmal von der Nacht gezeichnet. Ich laufe wie gebannt darauf zu. Mache die Musik aus, denke darüber nach, wie das Leben der Opfer wohl ohne diese schreckliche Tat verlaufen wäre und stelle die Bilder wieder auf, zünde Kerzen an.
Ich habe Tränen in den Augen und bemerke, wie die Kerzen immer wieder vom Wind ausgehen. Ich mache verzweifelt weiter.
Währenddessen laufen viele Leute an mir vorbei. Schauen mich verwirrt an. Keiner kommt um mir zu helfen. Sie schauen nur.
Ich bekomme für einen Augenblick die Idee, dass sich so wohl Opfer von Rassismus fühlen. Doch das ist unvergleichbar, denn ich habe mich freiwillig in die Situation gebracht und kann auch einfach wieder aus dieser verschwinden!
Währenddessen ist der Kampf um die Flammen vergebens, die Lichter werden schneller ausgepustet, als ich sie wieder anzünden kann. Es werden niemals alle brennen.

1Studentenbewegung in den 1960ern in Weststaaten; in der BRD war auch die Forderung der Entnazifizierung aller staatlicher Behörden und der Gesellschaft Gegenstand der Proteste

Gude! Ich bin Moritz Mager (geb. 2001), könnt mich Mo nennen. Ich finde es total wichtig sich mit politischen Themen zu befassen und sich für Progressives einzusetzen. Antifaschismus. Antirassismus. Feminismus. Seit beginn meiner Politisierung weiß ich, dass ich darüber reden und schreiben muss, da ist es doch wunderbar, wenn es Chancen wie meinTestgelände gibt.
Mein Lieblingsfilm ist „Fight Club“, mein Lieblingsinterpret ist Lil Peep, Mein Lieblingsgedicht ist von Wolfgang Herrndorf: „Kleines Sommerlied“. 
Wenn ihr mit mir diskutieren wollt oder mir eine Rückmeldung geben wollt bin ich dafür sehr offen: moritz170901@gmail.com oder über Instagram: moritz.mgr