Paralympics, Geschlecht und Krüppelfrauen

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Unsplash / Pilotto

Vor 30 Jahren fanden offiziell die ersten Paralympischen Spiele statt. Die Teilnehmer*innen wollen bis heute als Sportler*innen anerkannt und nicht als Behinderte bejubelt werden. Fluff untersucht, inwiefern das gelungen ist und warum “ein ganz normaler Mensch nicht zur Inspiration taugt.”

„Ich will als ganz normaler Mensch angesehen werden!“ sagte Marianne Buggenhagen schon 1991 der Zeitschrift „die Stütze“. Im Interview ging es um sie, ihren Sport, ihre Behinderung und ihren Mann. Ein kurzer Artikel, der gleichzeitig auch heute hätte erscheinen können: Es wurde betont, wie selbstständig sie sei, wie sauber ihre Wohnung und wie unabhängig sie (trotz Rollstuhl) im Leben stünde. Kurz nach der Wende, gerade arbeitslos geworden, aber dennoch die Hoffnung nicht aufgebend.

Damals plante sie, an den ersten offiziellen Paralympischen Spielen 1992 in Barcelona teilzunehmen. 
Das gelang und Marianne nahm direkt vier Goldmedaillen mit nach Hause: im Fünfkampf, Speerwurf, Diskurswurf und Kugelstoßen. Insgesamt wurden es in den folgenden Jahren neun Goldmedaillen, zweimal Bronze und dreimal Silber – und drei Weltrekorde (Diskurswerfen, Speerwerfen, Mehrkampf).

Auch 2022 finden die Paralympischen Spiele statt, vom 04. März bis zum 13. März in Peking. Deutschland wird 18 Athlet_innen in die chinesische Hauptstadt schicken. Gleichzeitig geht es bei den Paralympics auch jedes Jahr darum zu zeigen, dass „solche Menschen“ (euphemistisch ausgedrückt: Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen mit Handicap, Menschen mit besonderen Bedürfnissen), faktisch korrekt ausgedrückt: behinderte Menschen „ebenfalls alles schaffen können“ und chronisch gesunde, nichtbehinderte Menschen dadurch „inspirieren“.

In der Ankündigung der Paralympischen Winterspiele (und der Beschreibung des Maskottchens) liest sich das ungefähr so: „Das Leuchten, das von Shuey Rhon Rhons Herz ausgeht (das das Logo der Winter-Paralympics Beijing 2022 umschließt), symbolisiert die Freundschaft, die Wärme, den Mut und die Ausdauer von Para-Athleten – Eigenschaften, die jeden Tag Millionen von Menschen auf der ganzen Welt inspirieren.“ Auch in der Fackel scheint Inspiration eine große Rolle zu spielen: „Die Fackel hat eine Farbkombination aus Silber und Gold (die olympische Fackel ist rot und silber), die „Ruhm und Träume“ symbolisieren soll und gleichzeitig die paralympischen Werte „Entschlossenheit, Gleichheit, Inspiration und Mut“ widerspiegelt.“

Und auch beim Emblem ist die Inspiration offensichtlich tragend gewesen: „Das offizielle Emblem der Paralympischen Winterspiele Beijing 2022 mit dem Namen „Leaps“ (Sprünge) transformiert kunstvoll 飞, das chinesische Schriftzeichen für „fliegen“. Das von dem Künstler Lin Cunzhen geschaffene Emblem soll das Bild eines Athleten im Rollstuhl heraufbeschwören, der sich auf die Ziellinie und den Sieg zu bewegt. Das Emblem verkörpert auch die Vision der Paralympics, Para-Athleten zu befähigen, „sportliche Höchstleistungen zu erzielen und die Welt zu inspirieren und zu begeistern“.“

Eine „ganz normale Frau“, bzw. „ein ganz normaler Mensch“ taugt nicht zur Inspiration, der Wunsch von Marianne Buggenhagen scheint sich bis heute nicht erfüllt zu haben.

Sportliche, behinderte Menschen werden bis heute für inspiration exploitation herangezogen – und dadurch schlussendlich entmenschlicht. Inspiration exploitation (teilweise auch veraltet als „Inspirationporn“ bezeichnet) bedeutet, dass behinderte Menschen nur als Projektionsfläche ihres Erfolgs gesehen werden: „Wenn DIE das schaffen, können es ALLE schaffen!“. Individuelle Geschichten und Bedürfnisse verschwinden hinter dem pauschalen „dafür, dass du behindert bist, bist du aber fast(!) normal“ und auch jenseits von den Paralympics werden behinderte Menschen für ihre reine Existenz zur Inspiration verklärt.

Bereits seit 1980 schrieben Krüppelfrauen (eine Selbstbezeichnung innerhalb der Krüppelbewegung) gegen die Normierung und „Inspiration“ der nichtbehinderten Welt an. So wird 1981 in der „Krüppelzeitung“ über ein Büchlein geschrieben, das an körperbehinderte Mädchen gerichtet ist und diesen den Umgang mit Make-Up und Schminke näherbringen soll.
Treffend schlussfolgert die Autorin: „Grundsätzlich wird zwischen einer nichtbehinderten Frau und einer Krüppelfrau unterschieden: zur einen wird gesagt ,falls du dich rausputzt, dann liegt dir die ganze Welt zu Füßen, und zur anderen ,,falls du dich nett herrichtest, dann findest du auch ein Plätzchen in der Welt. Was ich dabei so erschreckend finde, ist, dass für die nichtbehinderten Frauen und Krüppelfrauen verschiedene Wege vorgezeichnet sind. Die eine im Vordergrund, die andere im Hintergrund. Mit der gleichen Unverfrorenheit wird festgesetzt, dass das Leben der nichtbehinderten Frauen durch Sexualität bestimmt wird, während im Leben der Krüppelfrauen die Sexualität unter den Tisch fällt. Für mich ist das eine wie das andere keine Alternative. Ich lehne es in jedem Fall ab, wenn nichtbehinderten Frauen und Krüppelfrauen vorgeschrieben wird, wie ihr Leben auszusehen hat. Ich bin für Selbstbestimmung. Erst recht für die Krüppelfrau, denn sie muss sich als Krüppel und als Frau emanzipieren.“

Leider zeigt auch die Berichterstattung der Paralympics ähnliche Tendenzen. Während olympische Spielerinnen (höchst fragwürdig) nach Ästhetik bewertet werden, wird die paralympische Berichterstattung vor allem nach der Behinderung der Athleth_innen ausgerichtet und (im Zweifelsfall) eine ergreifende Geschichte erzählt, wie es zu dieser oder jener Behinderung kam.

Inspiration kommt aus der Überwindung der eigenen Behinderung für nicht-Behinderte und trifft hier auf eine besonders unangenehme Kombination aus Sexismus und Ableismus. 
Von der Forderung Marianne Bruggenhaagens, als „ganz normale Menschen“ wahrgenommen und dargestellt zu werden, sind wir bis heute weit entfernt.

Ich bin Fluff, autistisches Enby, wohnhaft in Ostdeutschland. Auf meinTestgelände schreibe ich über das, was mich bewegt und Bewegungen - politisch und körperlich. Ich bin Ihre Eminenz auf High-Heels und mein Schminktisch ist ähnlich groß wie mein Teeregal.