So etwas ist mir schonmal passiert: K.O.-Tropfen

Ko-Tropfen_Beitrag
Arano

Triggerwarnung: sexuelle Gewalt

“Wurdest du schon mal sexuell belästigt?” Christin weiß keine genaue Antwort auf diese Frage. In ihrem Beitrag erzählt sie, wie sie erinnert wurde an ein wahrscheinlich durch K.O. Tropfen ausgelöstes Ereignis von vor 5 Jahren, auf das sie heute noch keine abschließenden Antworten hat. Gerade das Unwissen, dass sie sich an kaum etwas erinnern kann, belastet sie noch heute. Doch wie Christin erzählt, ist sie nicht die einzige.


Wenn ich gefragt werde ob ich schonmal sexuell belästigt wurde, weiß ich meist die Antwort nicht. Das ist ein bisschen so, wie wenn man früher gefragt wurde nach dem peinlichsten Moment. Natürlich hatte man peinliche Momente, aber ich kann nie einen genauen benennen. Auf die Frage ob ich schon mal sexuell belästigt wurde, klingt in mir eine innere Angst an, ob meine Erfahrungen denn ‚wirklich so schlimm waren‘. Klar bekam man unangenehme Kommentare und eine Hand lag an einer unangenehmen Stelle, aber reicht das um wirklich eine ‚Belästigung‘ zu sein? Meine Antwort war also meistens ein ja unter Vorbehalt. Dabei gab es eine Erfahrung die ich stets verdrängte. So verdrängte, dass ich sie ganz vergaß. Eine lang eingegraben Erinnerung wurde die letzten Tage wieder hochgeholt und aufgetaut. Ich habe lange überlegt ob ich darüber schreiben soll oder nicht. Es ist nicht gerade leicht mit seinen Erfahrungen an die ‚Öffentlichkeit‘ zu gehen in einem Raum in dem man keine Kontrolle mehr über sie hat.
Erinnert habe ich mich erst wieder daran vor ein paar Tagen. Ich studiere über ein Erasmus Programm gerade in Birmingham. Im konkreten heißt das viele Menschen und Eindrücke auf einmal. Ein Polizist kam um uns über die Kriminalität hier in Großbritannien aufzuklären. Neben Schülerinnen, die Steine auf Busse werfen und so genannten Zombie Drogen. Doch eben auch, dass im letzten halben Jahr vor allem Frauen* in Bars und Clubs mit KO-Tropfen angergriffen wurden. In der Form einer Spritze, so klein, dass man sie kaum bemerkt. Die betroffenen Personen sind ohne Erinnerungen und mit blauen kreisförmigen Flecken um eine Einstichstelle aufgewacht.
Neben der Regel, sein Glas nicht unbeaufsichtigt zu lassen, wurde uns jetzt eingetrichtert, nur in Gruppen raus zu gehen und aufeinander zu achten. Als ich mich schockiert zu einer Freundin aus den Niederlanden umdrehte, sagte sie zu mir, so etwas sei ihr auch schon mal passiert. Also die KO-Tropfen. Da fiel es mir wieder ein. Mir auch. Wahrscheinlich zumindest.
Ich war 16 und es war ein Landesjugendplenum von einer Partei. Wir waren da um über Politik zu reden, aber vor allem um zu feiern. An dem ersten Abend habe ich mich mit meinen Freunden vorher in einem Bungalow getroffen bevor wir zur Party gehen wollten. Ich hatte 2 Vodka Shots. Mehr nicht. Wir kamen an und ich erinnre mich schleierhaft, dass es eine neue Runde Shots gab. Ich weiß nicht mehr was in meinem drinnen war, aber ich stand im Kreis meiner Freunde und wir haben angestoßen. Dann habe ich noch Erinnerungen von einer Toilette und das wars. Meine Freunde haben mir später erzählt, dass ich eine halbe Stunde lang gut drauf war. Getanzt habe und Spaß gehabt habe. Ab einem Punkt sei ich dann einfach umgekippt. Einfach in mich zusammengefallen. Ich wurde zurückgetragen und in meinen Bungalow in das unterste Etagenbett gelegt.
Als ich aufwachte, war eine Person hinter mir. Ich wusste nicht, wo ich war oder was passiert war. Meine Klamotten hatte ich an, aber meine Hose war offen und in dem Bereich der offenen Hose lag die Hand von Tobias (Name frei erfunden). Tobias kam aus einer anderen Stadt, muss zwischen 17 und 18 gewesen sein und wir hatten uns bislang nicht einmal miteinander unterhalten. Ich schlich mich aus dem Bett so gut ich konnte und das erste, was ich tat, war mich zu übergeben.
Ich fand die Freunde in den Betten gegenüber von mir. In meiner Panik weckte ich sie auf und fragte sie, was am Abend passiert war. Sie sagten, dass ich eine halbe Stunde lang gut drauf war. Getanzt habe und Spaß gehabt habe. Ab einem Punkt sei ich dann einfach umgekippt. Einfach in mich zusammengefallen. Ich wurde zurückgetragen und in meinen Bungalow in das unterste Etagenbett gelegt.
Als ich gefragt habe was Tobias in meinem Bett an mich gekuschelt macht, meinten sie, er war nicht dabei, als sie meinen schlaffen Körper zurückgetragen haben. Ob er schon hinter mir lag, als sie ins Bett gingen, wissen sie nicht, weil sie recht betrunken waren. Eine war sich ganz sicher, dass Tobias noch getanzt hat als sie gingen, denn er hatte an dem Abend Ecstacy genommen.
Als ich raus ging um mich erneut zu begegnen und meine Geschichte wem anders erzählt, nachdem ich gefragt wurde, wie mein Abend war, sagte dieser nur: so ging es mir auch, nachdem mir jemand KO-Tropfen gegeben hat. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich darauf reagiert habe (Es ist jetzt 5 Jahre her), doch ich weiß, dass mir den ganzen Tag schlecht war und ich meine Magensäure hochgewürgt habe. Als ich nach langem Googeln mit einer furchtbar langsamen Internetgeschwindigkeit herausgefunden habe, dass KO-Tropfen flüssiges Ecstacy sind, wurde mir nur noch schlechter. Tobias habe ich nicht wieder gesehen. In der Zeit, als ich panisch auf einer Bank auf dem Gelände saß, muss er gegangen sein und war wohl auf dem Weg nach Hause.
Ich tastete mich in einem Waschraum ab. Konnte zumindest keine Veränderung feststellen. Ich hatte aber damals auch noch nicht mein erstes Mal, war mir also nicht sicher ob ich überhaupt wissen könnte wie sich eine Veränderung anfühlt. Meine Sachen hatte ich ja fast alle an, was mich beruhigte, aber natürlich hätte man sie mir auch wieder anziehen können. Diese Ungewissheit, was damals passiert war, macht mich noch heute verrückt.
Später habe ich auf meinem Handy Fotos gefunden die ich von mir selbst im Waschraum gemacht hatte und draußen mit den anderen. Ich erkannte mich kaum wieder. Tobias war im Hintergrund.
Die Fahrt nach Hause war furchtbar und zu Hause hatte ich gelogen, dass es in der Unterkunft Fisch gab und ich diesen nicht so gut vertragen hatte. Meine Eltern waren aufgrund meines Outings so oder so nicht sehr gut auf mich zu sprechen. Bis Montag hatte ich das Gefühl mich zu übergeben und ging anstelle zur Schule zum Arzt.
Der Arzt war ein weißer alter Mann, der seinem Ruf leider komplett gerecht wurde. Alles, was passiert ist, war meine Schuld. Habe ich nicht vielleicht doch mehr getrunken, einen ‚normalen‘ Filmriss gehabt und Tobias vielleicht angeleitet? Bin ich sicher, dass ich nicht einfach nur bewusst Drogen genommen habe?
Meine Entscheidung, meine Eltern nicht zu informieren, ist auch Jahre später noch eine gute gewesen. Meine Eltern hätten mir ehrlicherweise nicht helfen können und ich habe auch nicht so eine gute Bindung, dass es mir irgendwas außer mehr Geschrei und mehr ‚deine Schuld‘ eingebracht hätte. Der Bluttest wurde gemacht und der auf Geschlechtskrankheiten nach sehr viel Fragen. Ich habe meinen Hausarzt damals gefragt, ob ich vielleicht einen Psychotherapeuten sehen kann. Er meinte: Dinge, die man selbst zu verantworten hat, muss man auch selbst ausbaden. Es hat mich 4 Jahre gekostet um tatsächlich psychische Hilfe annehmen zu können, weil ich immer davon ausging, dass alles meine Schuld war.
2 Tage später rief ich an und es gab kein Ergebnis. Mein Blut wurde im Labor aus Versehen vertauscht und ist nun unbrauchbar. Zu diesem Zeitpunkt war es zu spät um zu testen, ob es KO-Tropfen waren. Ich habe bis heute keine Antwort. Ich weiß es einfach nicht. Der Test auf Geschlechtskrankheiten war negativ aber niemand konnte mir sagen, ob ich Sex hatte oder nicht.
Nur durch ein ‚Sowas ist mir auch schonmal passiert‘ wurde in mir diese Lawine losgetreten. Ich habe 5 Jahre später immer noch keine Antworten. Ich weiß nicht, was passiert ist. Manchmal holt es mich wieder ein. Diese Erinnerung, die durch viele Tritte tief in mir vergraben liegt. Hat mich also schon mal jemand sexuell belästigt? Irgendwie ja. Irgendwie nein. Aber doch schon. Ich weiß nur nicht wie ich es sagen soll.
In diesem Raum sahen sich viele Frauen* um und flüsterten zu ihren Sitznachbarinnen. Von vielen Tischen kam ein gemurmeltes: das ist mir auch schon passiert.

Von Christin Albrecht

Wir begrüßen auf meinTestgelände junge Menschen, die Fluchterfahrungen haben. Einige haben Angst vor Repressalien und Gewalt. Deshalb möchten sie ihre Geschichten anonym erzählen. Dies ist der Ort, an dem diese Geschichten ihren öffentlichen Platz haben.