Beim Filmgucken in der Schulklasse von Johanna Maria kommt es zu intimen Szenen, welche ihren Mitschüler:innen und ihrem Lehrer offensichtlich unangenehm sind, sie gucken weg. Warum ist es so ein Tabuthema und warum fällt es vielen so schwer darüber zu sprechen? Diese und weitere Fragen kommen Johanna Marie in den Kopf.
9:45 Uhr, Beginn des Religionsunterrichts.
Wir schauen den Film ,,Das Tagebuch der Anne Frank“ im Klassenverbund. Am Smartboard erscheint eine Szene, bei der die Protagonistin ihre Vulva mit dem Spiegel genauer erforscht, sich genauer mit ihrem Körper und ihren Gefühlen dort auseinandersetzt. Die Stimmung im Klassenraum ist bedrückt, als würden alle die Luft anhalten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Lehrer schaut auf die gegenüberliegende Wand, bloß nicht auf den Film und erst recht nicht in die Augen der Schüler*innen blicken. Könnte ja unangenehm werden, um Himmels Willen!
Der Film geht weiter, Ausschnitte aus der Zeit im Hinterhaus der Familie Frank, Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter und Leid, sehr viel Leid und Trauer, sind zu sehen. Dazwischen typische Probleme aus dem Alltag von Heranwachsenden. Kurz darauf sitzen Margot und Anne nebeneinander und reden darüber, dass Margot ihre Tage bekommen habe. Zu meiner Linken wendet sich meine Sitznachbarin plötzlich scheinbar sehr am Zeichnen interessiert ihrem Blatt zu; mein Sitznachbar sieht gerade die Notwendigkeit darin, sich seinen Schnürsenkel, der bereits zu einer Schleife gebunden war, neu zu öffnen und zu binden. Und ich sitzen zwischen den beiden, nicht sicher, was ich fühlen soll. Sollte ich auch beschämt wegschauen? Oder ist es in Ordnung, dass ich die Szene alles andere als unangenehm finde, sogar vielmehr dagegen ankämpfen will, dass auch meine Umsitzenden sich nicht mehr schämen müssen?
Der Film endet, Reflexionsrunde.
Oberflächlich wird der Film wiedergegeben und bewertet, wie die filmische Umsetzung in Bezug auf das Tagebuch der Anne Frank gelungen sei. Der Lehrer nimmt Stellung zu den intimen Stellen, die der Film darlegt und behauptet plötzlich selbstbewusst, wie unnötig das Zeigen solcher Situationen sei und er das nicht sehr begrüße. Seltsam, denn während des Films schien er einst verunsichert und so …klein?… Ich merke, wie sich Gefühle in mir anstauen. Aus Wut darauf, dass wir Offensichtliches nicht ansprechen und alles totschweigen, was es in diesem Scheißsystem zu ändern gebe. Einatmen, ausatmen, runterfahren.
Die darauf folgende Aufgabe: ,,Verfasse eine Filmkritik zum Film!“
Sie wollten es so, denke ich und schreibe Teile dessen, die mir während des Films durch den Kopf gingen, mit in die verlangte Rezension.
Ein Auszug meiner Rezension lautet wir folgt:
,,Auch die Themen Liebe und Selbstfindung finden in dem Film Platz. Das führt bei einem gemeinsamen Anschauen des Films in der Schulklasse zu peinlicher Berührung und die Relevanz des Zeigens dieser Themen in diesem Kontext kann sicherlich in Frage gestellt werden. Dennoch habe ich für mich feststellen können, dass es Teil des Entwicklungsprozesses eines Teenagers ist und wo, wenn nicht in der Schule, sollte es eine Plattform zur realistischen Darstellung dieses Lebensabschnitts, der Pubertät, geben? Es gehört einfach dazu und der Film gewinnt dadurch an Echtheit.“
Ich lese meinen Text in der Klasse vor, schließlich soll jede*r seine Ergebnisse vorstellen.
Übrig bleibt nach dem Vorlesen meines Textes Schweigen, auch der Lehrer äußert sich nicht weiter dazu.
Was ich vielleicht noch erwähnen sollte: Besagter Film wurde in unserer Klasse bereits als Ergänzung zum Tagebuch der Anne Frank geschaut. Dadurch, dass wir den Film nun auch in unserem Mischkurs in Religion anschauten, fiel mir auf, dass im Deutschunterricht auf die Darstellung folgender Filmszenen verzichtet wurde: Anne erforscht sich mit dem Handspiegel. Anne und Margot sprechen über die Menstruation. Anne wird mit Peter intimer. Anne gelangt ins Konzentrationslager.
Interessant, wo die Prioritäten gesetzt wurden, oder?
Es geht nicht darum, dass wir immer und überall über Sex, Sexualität und Identifikation reden. Es geht darum, dass wir dann über diese Themen können, wenn es angemessen und nötig wäre.
Auch sollten wir nie vergessen, dass auch Lehrer*innen nur Menschen sind. Und genau deshalb ist es wichtig, dass wir als Schüler*innen weiterhin unsere Meinung vertreten und verteidigen. Denn selbst wenn unsere Lehrer*innen Vieles anders sehen, als wir selbst, ist es umso relevanter, dass wir zu uns stehen, marginalisierte Gruppen verteidigen und Contra geben.
Wir müssen im Diskurs bleiben und sollten uns keinesfalls verschließen. Konstruktiver Austausch ist eine Grundlage für ein friedliches Zusammenleben und so kann es auch nicht schaden, sich mit der Gegenseite auseinanderzusetzen.
Es läutet zur Pause.
Ich verabschiede mich vom Lehrer, verlasse den Raum und übrig bleiben drei zentrale Fragen:
• Wieso fällt es uns schwer, über Tabus zu sprechen und Grenzen zu überwinden, die uns doch zu mehr Akzeptanz verhelfen würden?
• Was hat Religion mit alledem zu tun?
• Was habe ICH beizutragen?
Ich gehe über die Türschwelle raus in den Flur und übrig bleibt:
Leere.
(PS: Für die positiven Vibes eines jeden Textes möchte ich an dieser Stelle noch mal den seit 2011 bestehenden Ausdruck ,,Vulvina“ feiern und den Buchtipp ,,Sie hat Bock“ von Katja Lewina in die Welt raussenden. Habt einen schönen Tag!)