Ich zeriss ihn

Diana_beitrag

Wir freuen uns mit Diana eine neue Autorin auf meinTestgelände begrüßen zu können. Diana ist „Russin, – und Deutsche. Rheinland-Pfälzerin mit wolgadeutschen Wurzeln. Postsowjetisch geprägt und eine Trierer Seele.“ Seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine fühlt es sich für Diana an, als stände ihre Welt still. Halt findet sie in der Literatur und stellt euch daher den Roman „Die Lüge“ von Mikita Franko vor – darin geht es um ein Kind, welches bei seinem schwulen Onkel und seinem Freund aufwächst.

Mikita Franko wurde 1997 in Kasachstan geboren und lebt heute in Moskau. Er “versteht sich als Akyn, als kasachischen Volksdichter, der politische Themen behandelt”, heißt es in seiner Autorenbiographie. Sein Debütroman wurde 2020 veröffentlicht und erschien Anfang Mai 2022 nun unter “Die Lüge” in deutschen Buchhandlungen. Mich freut das sehr.

Seit dem 24. Februar 2022 scheint mir, als stünde die Welt still – jedenfalls meine. Ich habe das Gefühl, ich komme nicht mehr mit. Irgendwie geht alles weiter, immer mehr, aber ich sehe in mir Stillstand. Irgendwie jedenfalls. Denn auf der anderen Seite kreisen meine Gedanken fortwährend, eine Frage jagt die nächste: Ich bin Russin, – und Deutsche. Rheinland-Pfälzerin mit wolgadeutschen Wurzeln. Postsowjetisch geprägt und eine Trierer Seele. Wer bin ich dann in Zeiten wie diesen?

zwischen Pubertät und Depression

Frankos Roman entstand, weil er schreiben musste. Einzelne Passagen online veröffentlichte, als es in ihm tobte. Weil er nicht wusste, wohin sonst mit all dem, was raus muss. Die Begeisterung anderer über sein schriftstellerisches Talent inspiriert ihn dazu, seine Textfragmente zu bündeln. Daraus entstand “Die Lüge”, ein Roman, in dem wir Mikitas Kindheit und Jugend begleiten und Wahrheit und Fiktion auf eine Weise verschmelzen, die mein Herz höher schlagen und mich euphorisch schreien lässt.

Mikita wächst bei seinem schwulen Onkel Slawa und seinem Freund Lew auf. Wir begleiten Mikita dabei, zu erkennen, dass Lew nicht bloß ein guter Freund seines Onkels ist. In der Welt des Postsowjetismus, in die Mikita hineingeboren wurde, stellt Homosexualität etwas Undenkbares dar. Und doch zeigt Mikita schon im Kindergartenalter ein Reflexionsvermögen, das bei vielen älteren Menschen nicht vorzufinden ist: “Ich musste zugeben, dass man Aschenputtel durch einen Jungen ersetzen konnte, ohne den Handlungsverlauf groß ändern zu müssen. Oder den Prinzen durch eine Prinzessin. Aber wenn das wahr war, warum schrieben dann alle Schriftsteller nur über Jungs und Mädchen? Schriftsteller sind doch kluge Menschen, die müssen genau wissen, was wahr ist und was nicht.” (S. 23)

Diese Beobachtung der fehlenden Repräsentation queerer Menschen ist nicht die einzige Parallele, die zwischen Mikita und dem Autor Franko zu ziehen ist, – der nicht zuletzt aus dem Bedürfnis heraus, etwas an diesem Umstand zu ändern, “Die Lüge” publizierte. Franko zeigt, dass Queerness nicht vor der internalisierten Queerfeindlichkeit schützt, die wir dem heteronormativen Patriarchat zu verdanken haben, in dem wir leben.

“Es war, als stünde ich auf wackeligem Grund, der mich nicht tragen konnte. Und als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis alles zusammenbrach.” (S. 187)

Mikitas Kernkonflikt besteht in dem Doppelleben, das er führt: Er darf niemandem erzählen, dass er zwei Väter hat, weil ihnen sonst das Sorgerecht entzogen werden kann. Was dieses Luftanhalten von Kindesbeinen an mit einem Heranwachsenden macht, erleben wir in “Die Lüge” hautnah mit und begleiten Mikita somit bei seinem Wachstums- und Reifeprozess. Wir erleben wie wütend er auf die queerfeindliche Gesellschaft ist, in der er lebt und wie er sich einer irrationalen Wut auf seine Eltern hingibt, weil er in ihrer Liebe den Grund für seine Unfreiheit ausmacht.

Es sind nicht zuletzt diese Momente des Ringens und Kämpfens, die Franko mit einer Alltagsnähe beschreibt, die berührt, betrifft und bewegt. Auch ohne in einer Regenbogenfamilie großzuwerden sind die Erfahrungen Mikitas kollektive Erlebnisse, die wir alle so oder so ähnlich früher oder später durchleben: Zu begreifen, dass Erwachsene qua ihres Erwachsenenstatus keine Superhelden und moralischen Vorbilder sind und Eltern Menschen sind, die mit jedem Tag des Elternseins mehr in ihre Elternrolle wachsen. Zu akzeptieren, dass wir in einer ungerechten Welt leben und die Macht haben, etwas mehr Licht in diese zu bringen.

zwischen Poetisieren und Politisieren

Frankos Charaktere sind ehrlich und authentisch – ebenso wie ihre Beziehungen. Mikita ist ebenso unperfekt wie seine Väter Slawa und Lew. Nicht zuletzt dadurch werden auch die noch unperfekteren Buchcharaktere wie der fast schon klassisch böse Mobber ebenso liebenswürdig wie Mikita, Slawa und Lew. Wir sehen die Fülle an Ecken und Kanten des Lebens, die Verantwortung eines jeden Einzelnen und die deterministischen Züge des Meisterwerks Leben. Die einzelnen Kapitel beschreiben Situationen, die nicht aus der Luft, sondern dem Leben gerissen wurden und sich verflechten lassen zu einem Bild, das besser als jedes andere zeigt, was Heranwachsen, Familie und Brückenschlagen heißt. Damit erinnert Franko an “Die jüngste Tochter” von Fatima Daas, das im französischsprachigen Original ebenfalls 2020 und in der deutschen Übersetzung letztes Jahr erschien, – ein ebenso empfehlenswertes Debüt.

Sie beide reihen sich an Elif Shafak an, die die Kunst des Poetisierens und Politisierens alltäglicher, kollektiver Erfahrungen der wahrhaftigsten Wirklichkeit mit jedem neuen Roman auf den Höhepunkt treibt – in absoluter Perfektion. Dadurch liest sich “Die Lüge” federleicht, auch wenn das Herz dauerschwer ist und eine Träne der nächsten folgt, während ich immer wieder vor mich hingrinse. Franko schafft es, dass ich mich in Mikita ein Stück weit selbst finde und Mikita in mir, obwohl seine Lebenswirklichkeit meiner nur in den wenigsten Punkten gleicht. Diese Fähigkeit macht Franko nicht nur zum literarischen Meister der Schreibkunst, einem Könner, der sein Handwerk genauestens beherrscht. Franko ist ein philosophisches Genie, vor dem ich nicht nur meinen Hut ziehen, sondern mich im Geiste verneigen will. Es bleibt zu hoffen, dass auch seine weiteren Romane ins Deutsche übersetzt werden und mehr Menschen in den Genuss seiner Geistes- und Schaffenskraft kommen.

Ich finde, es braucht das. Stimmen wie Franko sind diejenigen, die Gehör finden müssen – in Russland und der Welt. Gerade in Zeiten wie diesen. Denn Literatur hat Kraft.

Das Buch ist im Mai 2022 erschienen Verlag Hoffmann & Campe.

Ich schreibe am liebsten über PostOst- und (queer-)feministische Themen und das, worauf zu wenig geschaut wird. In meiner Freizeit engagiere ich mich politisch. Ich stehe auf Intersektionalität, (heiße) Schokolade und meinen tierischen Begleiter Max.