Für Sven gibt es viele Anhaltspunkte, um über den CSD und seine Bedeutung für ihn zu sprechen. Doch am besten lässt sich das anhand des diesjährigen CSDs in Bochum und Svens Mitgestaltung daran erzählen. Lest am besten selbst.
Wenn ich über den CSD Bochum reden will, könnte ich an vielen Stellen ansetzen: Ich könnte eine Reise in die Vergangenheit zu den Stonewall Riots in New York 1969 machen, die als einer der Anstöße der modernen queeren Kämpfe genannt wird. Ich könnte ein Jahr später mit der Gründung der Homosexuellen Aktionsgruppe Bochum beginnen, die das erste studentische Bündnis seiner Art in Deutschland darstellte; Der HAB sollten noch viele weitere studentische Bündnisse folgen, denn durch die Arbeit dieser Gruppen ist auch letztlich der CSD in Deutschland gelandet; Ich könnte in den Zeitungsarchiven der Stadt recherchieren (oder googlen), wann der erste Bochumer CSD genau stattfand, aber wann der erste CSD in Bochum genau war, ließ sich nicht so leicht ergooglen – was ich noch im Gedächtnis habe war „in den 90ern/frühen 2000ern“. Ich könnte auch mit der Wiedergeburt des Bochumer CSDs anfangen, die 2019 begann, zum Anlass des 50. Jubiläums der Stonewall Riots auf der Christopher Street in New York, was ein fantastischer Neuauftakt für einen nonkommerziellen, queerfeministischen CSD in Bochum war. Diese Tradition sollte sich leider erst ab 2021 wieder jährlich bewahrheiten, 2020 fielen weltweit Pride-Festivitäten aus oder konnten nur Online gemeinsam verbracht werden. Ich könnte über den Beginn der Organisation des vierten CSD Bochums anfang dieses Jahres als Einleitung erzählen, wie sich ein offenes Plenum mit vielen wertvollen Perspektiven dienstäglich traf, um wichtige und bereichernde Arbeit für unsere lokale Community zu tun. Eine Gruppe an ehrenamtlichen mit Expertise auf ganz verschiedenen Ebenen, die diese Aufgabe und Verantwortung wahrgenommen haben, diese Tradition weiter zu leben und zu entwickeln.
Oder ich könnte mit all diesen Hintergrundinfos zu Anfang einfach direkt in mein Erlebnis der diesjährigen CSD Bochum-Woche einsteigen.
Am 23.06. traf ich mich im fluid, um mit anderen Queers gemeinsam Plakate, Demonstrationsmaterial und Transparente zu gestalten, die wir auf die Demo mitnehmen konnten. In einer Gruppe sowas vorzubereiten mobilisiert, inspiriert und macht Spaß! Eine Tradition, die ich bei einem meiner ersten CSDs in beim Hamburger Queerreferat gelernt und oft genutzt hatte, alles was gebraucht wird sind Bastelmaterial, Papier und ein paar Sprüche, die man sich gegenseitig vorschlägt. Was sind unsere Anlässe dieses Jahr, auf die Straße zu gehen? Das Motto war in Bewegung sein – solidarisch bleiben, und in diesem Sinne wollte ich eine Regenbogenflagge auf mein Plakat malen, und auf jedem Streifen stand, wofür dieser Streifen eigentlich steht. Das kann ich mir sonst nicht merken, und die meisten anderen die ich kenne auch nicht, da ist ein wenig Bildung auf den Straßen doch auch bestimmt nicht schlecht. Die anderen Teilnehmenden des Demonstrationsworkshops tauschten sich gemeinsam mit mir über die Vorfreude auf den CSD am Samstag aus, im Hintergrund spielte ein DJ ein gechilltes Set, und sein Plakat durften wir sogar am nächsten Tag bei der Queer Poetry Gala benefiziös versteigern.
Am 24.06. fand nach langer Vorfreude und viel Arbeit von Yasse die Eröffnung des queeren Kulturzentrums fluid und Queer Poetry Gala statt. Es war schon eine Woche vorher komplett ausgebucht, was für ein Kulturzentrum nicht schöner sein könnte! Ich fummelte mich auf, trug anlässlich der Eröffnung und Gala mein bestes Kleid und die höchsten Stöckel, und konnte mit allen Anwesenden mit alkoholfreiem Sekt anstoßen. Nach einem offiziellen Teil der Begrüßung aller Anwesenden ging das künstlerische Programm bald los, an dem Tag durfte ich drei Gäst*innen zur Premiere begrüßen, nämlich Jay Nightwind, Valo und Laron. Die Poet*innen moderierte ich vor ihrem Auftritt mit einer Laudatio von Herzen an, sie trugen ihre queere Kunst vor und danach interviewte ich sie zu ihrer eigenen Queerness, ihrer Communityarbeit und ihrer Kunst; Jay sprach über den Werdegang zu seiner eigenen Demisexualtität, Valo sprach über das Vermächtnis their schwulen Großvaters, und Laron sprach über die Notwendigkeiten von Labeln und seinen Aktivismus in Herne, und alle bekamen großen Applaus vom vollen Haus. Der Abend endete für einige noch beim CSD-Warm-Up in der Oval Office Bar, ich musste aber Energie tanken für einen langen Tag.
Nämlich den 25.06., den 4. CSD Bochum!
Der Tag, auf den all unsere Vorbereitungen hinausliefen, war endlich gekommen. Ein halbes Jahr intensive Vorbereitung, in den letzten Wochen heiße Phase, und alle kamen an diesem Tag zusammen, um auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Zu höchstzeiten waren über 2000 Menschen Teil der Demonstration. Am Vortag war noch das Attentat in Schweden passiert, und als Reaktion darauf gab es zusätzlich zur Schweigeminute später auf dem Platz auf der Demonstration eine Schreiminute, für all den Abfuck und den Schmerz, die Trauer, die nicht in schweigender Andacht ausgedrückt werden kann. Ich kam mit meinem Partner um 16:00 Uhr am Dr.-Ruer-Platz an, wo die Demonstration auch ihren Schlusspunkt hat und in das Straßenfest mündete.
Ich traf an der Treppe zur Bühne eine Person, die auch schon öfter zum Dortmunder Queerslam zum Zuschauen kam, und bekam ein Kindertattoo auf den Arm geklebt. Der Platz füllte sich schnell, der Bierwagen lief gut, die Infostände der Gruppen, die vor Ort waren, wurden gut frequentiert, und meine Aufgabe an dem Tag näherte sich: ein kleiner Traum stand nah seiner Erfüllung, als mir das Plenum das Vertrauen und das Mikrofon in die Hand legte, um das Bühnenprogramm unseres CSDs zu moderieren. Ich bereitete mich die Wochen und Tage vorher noch vor, legte mir meine Moderationskarten zusammen, die ich erst beim Demonstrationsworkshop selbst gebastelt habe, mit all meinen Notizen zu den Künstler*innen, und die anfängliche Nervosität konnte ich mit einer Portion Pommes von nebenan stillen. Zur Eröffnung brachte ich den Teilnehmenden des Straßenfests eine tuntische Tradition bei, nämlich die Winkprobe – alle nehmen den linken Arm hoch, ich zähl runter 3 2 1 , und dann sagen alle schön „Juuuhuuuuu!“. Schon war die Aufmerksamkeit vorne, und die Stage war bereit für die eröffnenden Worte von Alva und Eicke. Wir reichten uns die Mikrofone einander in die Hände, ich moderierte die nächste Künstlerin Clara Clasen aus Bonn auf die Bühne, und genoss eine kurze Pause, in der ich mit meinem Freund und zwei Lesben zusammen weiter Pommes aß.
Als Clara mit ihrem Set durch war, strömten die Fans hinter die Bühne, um ihr Merch aus der Hand zu reißen, und die nächsten Redebeiträge begannen: Neo vom Queeren Netzwerk und Laron vom CSD Herne richteten inspirierende Worte an die Crowd, sich nicht auf den Errungenschaften auszuruhen, sondern weiterzukämpfen, und besonders an den Orten und für die Geschwister im Geiste, für die wir noch zu wenig Errungenschaften feiern können.
Danach ging Ms. Bless auf die Bühne, es folgte ein Reveal nach dem nächsten, Lipsyncing und Crowdpleasing, eine tolle Drag Queen mit einer tollen Show und Bühnenpräsenz. Ich moderierte sie fälschlicherweise aus Changchun in China kommend an, zumindest sagte man mir, dass sie irritiert auf diesen Fact reagierte. Die einzige Info, die ich an dem Tag nicht gefactchecked habe, und die ist falsch – upsie!
Alva kam danach mit Adam auf die Bühne, um von der Rosa Strippe aus über die Situation von queeren Geflüchteten in Deutschland zu präsentieren und darüber zu sprechen, dass mehr Arbeit und Unterstützung in diesem Bereich von der gesamten Community, aber besonders auch von behördlichen Institutionen benötigt wird.
Der politische Block wurde von Vergissmeinnicht aufgebrochen, mit queerem Rap, was eine fantastische Kombi in their Hand war. Die Crowd ging mit, es wurde gefeiert, die erste Hälfte des Programms ging ohne große Komplikationen über die Bühne.
Auch vergissmeinnicht und Mrs. Bless wurden hinter der Bühne von ihren Fans gefeiert, nach Fotos gefragt, während Payton von Trans* Action Dortmund auf die Bühne ging und their politische Rede den Demonstrierenden unter tosendem Applaus vortrug. Ein bisschen stolz bin ich immer wieder auf diese spezielle Gruppe, denn viele dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich dort engagieren, waren auch früher Besuchende des Jugendzentrums in dem ich Leitung des offenen Treffs war. Shout-out an die Crew, ihr macht fantastischen Aktivismus!
Im Laufe des Tages gab es vereinzelt ein paar wenige Aggressionen und queerfeindliche Übergriffe, die sich auch neben der Bühne abgespielt haben. Wo ich konnte, stellte ich mich dazwischen, einmal musste ich einen übermutigen Jugendlichen von der Bühne ziehen, aber insgesamt war es eine friedliche Veranstaltung. Aus den wenigen Dingen, die passiert sind, konnten wir Lernerfahrungen als Plenum ziehen und reflektieren darüber bereits fürs nächste Jahr.
Im Anschluss durfte ich Kevin Kocur von der Aidshilfe Bochum zu dem Angebot der Aidshilfe für Queere Menschen, den Fokus ihrer Arbeit bei Herzenslust und der PreP-Beratung, dessen Wurzeln in Deutschland selbst auch in Bochum liegen. Wir redeten auf der Bühne auch über eine erfolgreiche Eröffnung des fluids, und es gab tollen Applaus für einen tollen Aktivisten, Kevin.
Danach musste ich ein wenig Zeit für die nächsten Redner*innen schinden, aber ein Profi hat immer eine Kazoo im Hinterpocket und kann entertainment improvisieren! Auch lang genug, um einen wichtigen Redebeitrag zu Josef Gera, der von rechtsextremen ermordet wurde, anmoderieren zu können. Die Forderung war klar: die Stadt Bochum soll aufarbeiten, was geschah, und einen Platz nach Josef Anton Gera benennen.
Danach moderierte man mich auf die Bühne für meinen Slambeitrag – und ich konnte keine zwanzig Sekunden am Stück ohne Zwischenapplaus durchsprechen, die Crowd ließ sich den ganzen Tag von mir mitreißen, und besonders bei meinem persönlichen Beitrag, das war sehr berührend. Im Anschluss an meine Spoken Word Poetry durfte ich die Schweigeminute auf der Bühne einleiten, zur Andacht an die Menschen die wir in der AIDS-Pandemie verloren haben, die queeren Sexworker*innen, die trans Menschen, die verfolgt wurden, und unseren persönlichen Verlusten. Somewhere over the rainbow spielte, ich musste auch ein bisschen weinen, und ganz viele liebe Leute kamen an den Bühnenrand, um mich zu drücken.
Als letztes schangelte die Drag Queen Mercedes Tuccini über die Bühne und auch darüber hinaus in die Menge, und ich feierte jede Sekunde ihrer Performance – denn sie hatte Spaß, und war danach glaub ich nicht sonderlich außer Atem. Der Tag endete mit Abschlussworten von Alva und Eicke vom Plenum, und wir beendeten die Bühnenshow mit einer Verneigung des gesamten Orgateams. Danach kaperte ein Jugendlicher die Bühne, um sich öffentlich zu outen unter tosendem Applaus, und danach gab es einen lesbischen Heiratsantrag, der zum Glück bejaht wurde, sonst wäre das peinlich geworden.
Die Bühne wurde abgebaut, die Stände auch, der Stickerstand schenkte mir sogar ein paar Sticker für eine gelungene Moderation, und ich ging mit meinem Freund zur Aftershowparty in der Rotunde, dem alten Katholikentagsbahnhof, in dem ich 2015 auch U20NRWMeister wurde. Fast an der selben Stelle, an der damals die Bühne stand, stoß das Plenum um Mitternacht auf einen erfolgreichen CSD mit Sekt an, es wurde noch von vielen weiter gefeiert, aber ich gehörte ins Bett. Ich durfte mir einen kleinen Traum erfüllen, und war bereit, vom CSD Bochum im nächsten Jahr zu träumen.