Moritz war zwei Tage auf der diesjährigen Dokumenta unterwegs und hat seine Eindrücke für uns aufgeschrieben. Einen besonderen Fokus hat er dabei auf queere Künster*innen und Aussteller*innen gelegt.
Eine ganze Stadt ist wie verzaubert, alles ist voller Peripetien, egal wo man/frau hinschaut, wo man/frau hingeht, immer sieht man/frau die Kunst und immer verschmilzt sie mit einer Stadt, sodass man/frau sich fragt, warum es nicht überall so sein kann.
ruangrupa, eine indonesische Künstlergruppe, hat die Documenta Fifteen kuratiert und die Maxime nach dem Begriff lumbung ausgerichtet. Ein Begriff der direkt übersetzt ‚Reisscheune‘ bedeutet, die typischer Weise kollektiv genutzt wird und genau um dieses Gefühl der Kollektivität und Gemeinschaftlichkeit hat sich auch die Documenta Fifteen ausgerichtet. Endlich mal keine Weltuntergangsstimmung auf einer Kulturveranstaltung, die Themen ‚Demokratiekrise‘, ‚Klimakrise‘, ‚Hungersnöte‘ und ‚Pandemie‘ wurden natürlich dennoch behandelt, sie haben aber keinen Mittelpunkt verkörpert. Nach all der Antisemitismus-Kritik habe ich mich also dennoch durchgerungen, die Documenta zu besuchen.
Also gibt es ein paar Punkte, die ich dann doch mit euch teilen möchte, fernab von den Ansprüchen einer hochkarätigen Kunstkritik, die Stimme eines normalen Rezipienten: Größe und Zeit, Organisation und Übersicht, Orte, Kunst, Progressivität
Die meisten Ausstellungen fanden sich in der Innenstadt wieder. Dort konnte man/frau keinen Meter gehen, ohne von dem Gefühl einer großen Kunstmesse getragen zu werden. Im Osten der Stadt verschmelzten Kunst und Stadtgefühl am stärksten. Im Süden gab es vereinzelt Kunst im Staatspark, der schon ohne Documenta Atemberaubend ist, Stadtparks, die man/frau nicht in 10 Minuten durchqueren kann, findet man/frau in Westdeutschland sowieso selten. Im Westen und Norden gab es nur vereinzelt Kunst zu betrachten. Um Zeit zu sparen war ich nur habe ich den Westen und Norden also ausgelassen, zwei Tage reichen für die Documenta offensichtlicher Weise nicht aus. Erstmal ist jede Ausstellung unfassbar groß und man/frau könnte, wenn man/frau sich angemessen viel Zeit nimmt, vielleicht drei oder vier Ausstellungen an einem Tag besuchen, dann kann man/frau sich noch an Workshops und Kursen anmelden, diese dauern auch zwei bis drei Stunden, und wenn man/frau dann noch die zahlreichen Sitzgelegenheiten nutzt, um sich einander in Gemeinschaft zu begegnen und über die Kunst zu reden bleibt wirklich gar keine Zeit mehr.
Mein liebstes Feature auf der Website ist eigentlich, dass „Derzeitige Reisezeiten mit dem ICE“ angegeben werden. Natürlich sind diese unter Voraussetzung, dass bei der DB alles klappt, wovon man/frau schonmal nicht ausgehen sollte, und trotzdem sind die Zeiten einfach falsch angegeben. Die Fahrtlänge ist ca. 20min zu kurz, selbst wenn man/frau von der schnellsten Verbindung ausgeht.
Es ist schwer sich eine Übersicht zu verschaffen, vorher zu wissen, wo genau man/frau gerade eigentlich rein geht und was die Hauptthemen sind und wann welcher Workshop zu besuchen ist. Am hilfreichsten hat sich eine kleine Map auf der Website oder auf dem Flyer erwiesen. Um an mehr Informationen zu gelangen, die gebündelt sind und etwas weiter ausführen kann man/frau sich für 30€ ein Taschenbuch kaufen. Overpriced. Wer ein Andenken haben möchte, kann sich aber auch für 12€ ein Poster oder für 15€ einen Jutebeutel im ruruhaus kaufen. Overpriced. Overpriced. Vielleicht würden die ganzen Andenken nicht im Resale so ansteigen, wenn sie von vorne rein für alle erschwinglich werden. Künstliche Limitation durch höhere Preise, Kunst war noch nie für die gesamte Gesellschaft zugänglich aber bei diesen Preisen für die einfache Souvenirs wirkt das ruruhaus als Verkaufs -und Ausstellungsort wie eine Karikatur von sich selbst als überzogene Kritik. Obwohl man/frau von vorne rein schon über die Ticketpreise diskutieren könnte, verstehe ich ja auch das Argument, dass sich Kunst für die meisten Besucher*innen auch teuer bezahlt anfühlen muss, damit diese auch mit voller Aufmerksamkeit rezipiert wird.
Ich musste mich also richtig einarbeiten, um eine Übersicht zu bekommen, dafür gab es echt coole Walks die man/frau auch einfach ohne Vermittler*in machen konnte, diese wurden einfach direkt von der Website auf Maps übertragen, zudem war alles auch super ausgeschildert. In den meisten Ausstellung sah es wiederrum anders aus. Teilweise wurde Kunst einfach gar nicht mit Angaben versehen oder es gab Datum und Titel aber keinen Subkontext, was es wirklich schwer gemacht hat einige Dinge richtig einzuordnen, generell war es wirklich oft eine lange suche nach dem Zusammenhang. Wenn es glückte und es konnte eine gute, eigene Interpretation gefunden werden war es dafür um so mehr befriedigend. Generell hätte ich mir aber schon mehr Text zu den ganzen Ausstellungsstücken gewünscht. Ich habe mich oft sehr überfordert gefühlt. Aber man/frau hätte ja eine Tour mieten können (Das hätte man/frau dann aber auch zwei Wochen im Voraus machen müssen, denn alle waren restlos ausgebucht) und nochmal Geld ausgeben können, schade, dass Informationen so daran gekoppelt sind.
Ansonsten musste man/frau nie lange anstehen, es gab immer und überall Garderoben und das Personal war immer sehr hilfsbereit.
Die Locations waren teilweise echt super und es wurden keine Mühen gescheut. Im Hallenbad Ost wurde der Verschmilzt ein altes Hallenbad mit dem Look einer Galerie, sogar der Beckenboden wurde erhöht. Auch bei mehreren Unterführungen gab es kleine Versteckte Räume oder eine Soundinstallation. Konventionelle Museen, wie die Grimmwelt Kassel ließen sich mit mehreren Ausstellungen zeitgenössischer Narrative verknüpfen.
In der Grimmwelt war auch mein persönliches Highlight der Documenta Fifteen, eine Videoinstallation im untersten Geschoss. Leider lässt sich mithilfe der Website nicht Rekonstruieren, von wem die Installation war, und dort wurde es auch nicht ausgeschildert. Es war ein Animationsvideo von einem Schwan, der eine hübsche Disneyprinzessin sein möchte, alles wurde sehr düster gehalten, so versagt der Schwan in seinem Streben und zerstört sein Umfeld. Eine klare Kritik an Rollenbilder und Schönheitsideale der Popkultur, aus meiner Sicht. Ansonsten war die Kunst immer sehr interessant, ich habe mich immer auf den nächsten Raum gefreut und auch die Kunst in der Öffentlichkeit hat sich so gut in die Stadt integriert, am stärksten ist mir das Gemälde auf der C&A Fassade im Gedächtnis geblieben, Gesellschaftskritik neben einem Fast Fashion Label. Im Ottoneum gab es extrem viel über den Pazifikkrieg zu lernen und einem/einer wurden viele Wissenslücken aufgezeigt. Es gab eine Ausstellung über Macht und eine Mathematische Darstellungsform von Macht im Museum für Sepulkralkultur, diese Ausstellung war die einzige, gefüllt mit Textgrundlagen. Dafür war das Vorgehen des Künstlers, der sich an die Frage ‚Was ist Macht?‘ annähert eine intellektuelle Herausforderung, die ich so noch nicht erlebte. Ich habe es am Ende kaum verstanden. Insgesamt gab es also viele Highlights, die die Documenta von einem normalen Besuch im Museum oder einer Galerie abheben.
Ich war auf gut 70% der Ausstellungsorte und wie oft habe ich Gendertoiletten gesehen? Ein Mal. Ein Mal gab es Flinta* und All Gender Toiletten, sonst war die Toilettensituation konservativ wie die Wahl in Italien. Da wurden wirklich die Chancen der Progressivität nicht ausgenutzt, mal so richtig in der Gegenwahrt zu sein, mit einer Veranstaltung über Zeitgenössische Kunst.
Bei der Progressivität kann man/frau direkt Abzüge machen. Nach queer feindlichen Übergriffen hat die Künstler*innengruppe aus Neu Dehli, Party Office, streicht die Gruppe ihr Programm ein Tag nach Start der Documenta. Glücklicherweise kehren sie am 08.08.2022 wieder zurück um ihr live-Programm fortzuführen, diesmal aber mit verschärften Einlassregeln für ihren Rave. Weiße Cis Männer dürfen nicht mehr kommen. Zu den ganzen Vorfällen gab es kein Statement von der Polizei oder von den Kurator*innen der Documenta, dieser Fail wurde im Keim erstickt.
Ansonsten gab es noch die Serigrafistas queer (queere Siebdrucker*innen), die Nicht-Gruppe stellte im, bzw. neben Sandershaus Rancho Cuis aus. Rancho ist ein Slangwort für prekäre, meist ländliche Lebensräume, ranchear das zugehörige Verb, mit dem eine bestimmte Art zu wohnen beschrieben wird. Leider war dieser Ausstellungsort etwas weiter im Osten der Stadt, ich habe ihn dennoch besucht, die dort aufgebauten Hütten und Gerüste waren jedoch ohne Subtext kaum zu verstehen, es war dennoch sehr interessant.
Das neuseeländische queere Kollektiv FAFSWAG hatte Live-Performances im Stadtmuseum Kassel, diese wurden online von Rezipient*innen gefeiert. Die Gruppe vereint den antirassistischen Kampf mit dem Kampf um Gendergerechtigkeit.
Zu den Preisen ist dennoch anzumerken, dass es auch Soli-Tickets gab für Menschen, die sich Tickets nicht leisten können. Man/Frau konnte auch mehr Geld für das eigene Ticket zahlen, um Soli Tickets mit zu finanzieren, das ist ein schönes Prinzip, ganz im Sinne der Gemeinschaft.