Belarus, nicht Weißrussland

Belarus

(Protest-)Bilder bewegen die Welt: Im Iran schneiden sich Frauen 2022 auf der Straße die Haare ab, in Belarus tanzten sie 2020 in weißen Kleidern auf der Straße. Es sind Frauen, die Demokratie- und Freiheitsbewegungen prägen und es sind wir, die uns mit solchen Bewegungen solidarisieren müssen. Unsere Autorin Diana findet: Um den belarusischen Widerstand gegen die Diktatur von Lukaschenko zu verstehen, müssen wir dabei ansetzen, dass Belarus nicht Weißrussland ist.

über gemeinsame Wurzeln

Belarus ist einigen sicher eher als Weißrussland bekannt. Bela bedeutet tatsächlich weiß, das Suffix -rus steht jedoch nicht für Russland, sondern bezieht sich auf die Kiewer Rus. Diese ist auch bekannt als alte Rus, denn die Bezeichnung Kiewer Rus besteht erst seit dem 19. Jahrhundert. Sie bezeichnet ein großreich bestehend aus Ukrainier*innen, Russ*innen und Belarus*innen, dass es vom Ende des 9. Jahrhunderts bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts gab. Damit zog sich das Reich vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee, auch das heutige Moldawien fiel unter das Herrschaftsgebiet der Kiewer Rus.

Der Name Rus wurde auf die ostslawischen Stämme übertragen, die die germanische Führungsschicht bald assimilierten. Vom Namen Rus leiten sich die Ethnonyme [Volksbezeichnungen] der Russen und Weißrussen [Belarusen] ab, außerdem die Namen Rusynen, Ruthenen und Kleinrussen, mit denen die Ukrainer [abwertenderweise] mehrere Jahrhunderte lang bezeichnet wurden.”

Prof. Dr. Andreas Kappeler, em. Prof. für Osteuropäische Geschichte in Wien

Unter Wladimir / Wolodymyr I. beginnt ab dem Jahr 988 die Christianisierung der Kiewer Rus, aus der die slawisch-orthodoxen Kirchen hervorgingen. Daraus resultiert in der späten Neuzeit ein Gründungsmythos des russländischen und ukrainischen Staates mitsamt ihrer orthodoxen Kirchen. Die russische Geschichtsschreibung beansprucht das Erbe der Kiewer Rus jedoch allein für sich. Sie argumentiert damit, dass die Rurikiden-Dynastie sich auch nach Zerfall des Kiewer Reichs durch innerdynastische Konflikte und Angriffe von außen im Moskauer Zarentum fortsetzte. Diese politische Kontinuität sehen sie im weiteren Geschichtsverlauf in der Sowjetunion und der heutige Russländischen Föderation.

Prof. Dr. Kappeler schreibt zu diesem Erbstreit, den er “wissenschaftlich unergiebig” findet: “Man projiziert nationale Kategorien der heutigen Zeit ins Mittelalter, obwohl man für die damalige Zeit noch nicht von Russen und Ukrainern sprechen kann. In der Sowjetunion prägte man deshalb den Begriff “der gemeinsamen Wiege” der Russen und Ukrainer, wobei den Russen allerdings immer die Rolle des “älteren Bruders” zugeschrieben wurde und der “jüngere ukrainische Bruder” nach dem Ende der Kiewer Rus im 13. Jahrhundert danach strebte, sich mit Russland „wiederzuvereinigen“.“

Dieses Narrativ müsste uns allen bekannt vorkommen.

über Unfreiheit und Freiheit

Nach Auflösung der Kiewer Rus schließen sich die belarusischen Fürstentümer dem Großfürstentum Litauen an. 1795 endet jedoch auch dieses Großreich aufgrund von internen Konkurrenzkämpfen und Eroberungsangriffen von außen. Die Zarin Katharina die Große (1729 – 1796) gliedert Belarus daraufhin in das Russische Zarenreich ein. Im 19. Jahrhundert geht von den Zaren eine Russifizierung aus: Russisch wird zur Amtssprache. Andere Sprachen wie Belarusisch, Wolgadeutsch oder Ukrainisch werden aus dem öffentlichen Leben verbannt. Die Folge: tradierte Familientraumata.

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges (1914 – 1918) besetzte die Wehrmacht Belarus. Nach Friedensschluss zwischen Lenin und Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1918 beschließen sie, dass besetzte Länder ein Recht auf Unabhängigkeit haben. Daraufhin gründete sich am 18. März 1918 die freie und unabhängige Volksrepublik von Belarus, deren weiß-rot-weiße Flagge wir noch von der heutigen Widerstandsbewegung kennen. Sie steht für Freiheit und Unabhängigkeit, – auch wenn andere Staaten (darunter die Weimarer Republik) die belarusische Republik nicht anerkannten. Sechs Monate später endet die Unabhängigkeit bereits. Hätte, hätte, Fahrradkette: Was wäre, wenn die internationale Gemeinschaft Belarus in seiner Unabhängigkeit und Freiheit damals unterstützt hätte?

Mit dem Vertrag von Versailles 1919 wurde u. a. die “Wiederherstellung” Polens beschlossen. Die Weimarer Republik tritt den belarusischen Westen an Polen ab. Der Osten wird 1922 als Belarusische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) ebenso wie die Ukraine zu einem der Gründungsstaaten der UdSSR. Als Teil von Polen wurde den Belarus*innen Glaubens- und Religionsfreiheit, das Recht Belarusisch zu sprechen und eigene Schulen zu errichten und die Teilnahme an der Politik zugesichert. Vor Alltagsdiskriminierung schützt dies jedoch nicht.

über Russlands Mitspielen

1939 schließen Stalin und Hitler einen Pakt: Polen soll angegriffen und dann aufgeteilt werden. Stalin soll den Osten kriegen – wo Belarus*innen leben. Dieser völkerrechtswidrige Angriff des Deutschen Kaiserreichs auf Polen im September 1939 stellt den Beginn des Zweiten Weltkrieges dar. Im Rahmen der sowjetischen Besetzung Ostpolens findet dort eine Sowjetisierung statt, die stark an die Russifizierung im Zarenreich erinnert. Es kommt erneut zur zwanghaften Assimilation an die russische Kultur und Sprache. Menschen werden zu Regimefeinden erklärt und ermordet.

Belarus und die Ukraine zählen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges (1939 – 1945) und dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion 1941 zu den Ländern mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung. Ghettos und Vernichtungslager entstehen. Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 in Berlin sollte die “Judenfrage” endgültig klären. Der für Belarus verantwortliche Nazi gab damit an, dass Belarus judenfrei sei. Ein Drittel der belarusischen Bevölkerung überlebte den Zweiten Weltkrieg nicht.

Mit der Eroberung von Belarus durch die sowjetische Rote Armee 1944 gehen erneute Deportationen einher. Die Befürchtung: Belarus*innen könnten durch die Nazibesetzung ebenfalls zu Faschisten geworden sein. Nach dem Krieg lässt Stalin deswegen Russ*innen in Belarus siedeln. Erneut sehen Belarus*innen sich in ihrer nationalen Identität und Freiheit unterdrückt.

über das sowjetische Ende

Am 7. Dezember 1991 lädt der belarusische Parlamentschef Stanislaw Schuschkewitsch die Präsidenten von Russland und der Ukraine, Boris Jelzin und Lenoid Krawtschuk, in eine Staatsdatscha in Viskuli ein. In der Nacht auf den 8. Dezember entsteht handschriftlich ein Vertrag, der den Staatenbund “Gemeinschaft unabhängiger Staaten” (GUS) begründet. Sie alle unterzeichnen das Belowescher Abkommen, in dessen Präambel steht: “Die Sowjetunion als Subjekt internationalen Rechts und geopolitischer Realität hat aufgehört zu existieren.”

Jelzin hört davon, dass Gorbatschow Bescheid weiß – der KGB hat die Datscha in Viskuli verwanzt. Das Militär ist Jelzin treu, der KGB allein kann es nicht richten – Gorbatschow tritt am 25. Dezember 1991 zurück. Jelzin kriegt den russischen Atomkoffer, die russische Flagge löst die sowjetische auf dem Kreml ab. Gorbatschow ist enttäuscht, später wird er sagen: “Ich habe immer vor dem Zerfall der UdSSR gewarnt” und “sie haben die Sowjetunion auseinandergebrochen. Es ging ihnen nur um die Macht.” Erstmal sagen wird er im Fernsehen, in dem vorher nur Schwanensee lief: “Ich beende meine Tätigkeit als Präsident der UdSSR. Ich bin überzeugt, dass unsere gemeinsamen Anstrengungen früher oder später Früchte tragen werden. Unsere Völker werden in einer blühenden und demokratischen Gesellschaft leben.”

Der Zusammenbruch der Sowjetunion wird auch als Ende des Kalten Krieges verstanden, – nicht zuletzt, weil der Warschauer Pakt, das Verteidigungsbündnis der osteuropäischen (sozialistischen) Staaten, damit ebenfalls ausläuft. Belarus und die Ukraine werden zu souveränen Staaten, die GUS besteht noch heute. Seit 2009 jedoch ohne Georgien und seit 2014 ohne die Ukraine. “Das ursprüngliche Ziel eines engen Zusammenschlusses unter der Führung Russlands (Russland (RUS)) wurde fallen gelassen”, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrem Politiklexikon.

Mich fasziniert das sowjetische Ende, das so viele Gründe hat: Zum einen weil Staaten wie Belarus und die Ukraine sich aus der russländischen Vorherrschaft in der UdSSR freimachen woll(t)en und diese Volkssouveränität aus russländischer Perspektive immer noch infrage gestellt wird. Zum anderen rührt meine Faszination daher, dass es marginalisierte Gruppen – wie jüngst Frauen in Iran und 2020 in Belarus – sind, die auf der Straße in erster Reihe. Vielleicht weil mehrfachmarginalisierte Menschen – leben in einer Diktatur und dazu unterdrückt in einer patriarchalen Welt – aus ihrer persönlichen Betroffenheit und Lebensperspektive besser erkennen, wie diese Machtdynamiken einander gegenseitig stützen. Deswegen geht es auch nicht nur um Belarus oder Iran, sondern so viel mehr.

Ich will verstehen, was es bedeutet, tagtäglich für eine freie, demokratische Welt und ein freies, demokratisches Belarus einzustehen. Deswegen spreche ich mit Katja; in meinem nächsten Text “Wer, wenn nicht wir und wann, wenn nicht jetzt?” zu lesen.

Ich schreibe am liebsten über PostOst- und (queer-)feministische Themen und das, worauf zu wenig geschaut wird. In meiner Freizeit engagiere ich mich politisch. Ich stehe auf Intersektionalität, (heiße) Schokolade und meinen tierischen Begleiter Max.