Während der WM in Katar wurde viel über die Situation von diskriminierungsbetroffenen Menschen vor Ort gesprochen. Martha lenkt den Blick zurück nach Deutschland, wo es bisher noch keinen aktiven Profifußballer gibt, der nicht cis-männlich und heterosexuell ist.
Die diesjährige Fußball-WM in Katar ist wohl eines der umstrittensten Sportevents aller Zeiten. Sie steht schon seit längerem in der Kritik, vor allem weil ihre Vorbereitung, zum Beispiel den Bau von Stadien, unter schrecklichen Arbeitsbedingungen stattfand und über 6500 (Gast-)arbeiter*innen das Leben kostete. Zum anderen gilt in Katar die Scharia, also das islamische Recht. Laut diesem sind Frauen sind nicht gleichberechtigt, zudem sind außerehelicher und homosexueller Sex verboten und können mit bis zu sieben Jahren Haft bestraft werden. Von Seiten des Staates wurde jedoch verkündet, dass alle Menschen und auch queere Personen zur WM in Katar willkommen seien. Doch erst vor wenigen Wochen bezeichnete der katarische WM-Botschafter und frühere Fußball-Nationalspieler Khalid Salman Homosexualität als „geistigen Schaden“. Den meisten ist zudem bewusst, dass die Versprechen der Toleranz von der Seite Katars dazu dient, um vor der Öffentlichkeit besser da zu stehen.
Es ist also wenig überraschend, dass viele kritische Stimmen zum Boykott der WM aufrufen und dies mit Erfolg: 6,2 Millionen Menschen sahen sich das Eröffnungsspiel zwischen Katar und Equador an. 2018 waren es noch knapp 10 Millionen Zuschauer. Von vielen Seiten wird auch an die teilnehmenden Fußballer appelliert: Der englische Ex-Stürmerstar Gary Lineker forderte schwule Fußballer zum Coming-out während der Weltmeisterschaft in Katar auf. Bisher seien der Engländer Jake Daniels und der Australier Josh Cavallo die einzigen höherklassig spielenden Fußballer, die ihre Homosexualität öffentlich gemacht haben.
In Deutschland hat sich bislang noch kein aktiver Fußballprofi als homosexuell geoutet. Dies mag im Jahr 2022 zwar absurd klingen, entspricht jedoch der Wahrheit. Wenn man nach queeren Fußballer*innen aus Deutschland sucht, bietet Google sechs verschiedene Portraits an, eine Liste mit vier Frauen und zwei Männern. Unter ihnen sind die Degenfechterin Imke Duplitzer, die Sportschützin Jolyn Beer und die Leichtathletin Martina Stutz, welche sich zwar als lesbisch geoutet haben und ihren Sport (bis auf Strutz) noch aktiv betreiben, jedoch keine Fußballspieler*innen sind. Übrig bleiben nun noch Marcus Urban, Thomas Hitzlsperger und Tanja Walther-Ahrens, die sich nach der Beendigung ihrer aktiven Karriere outeten.
2016 ermittelte die Dalia-Studie, dass 7.4% der Deutschen Teil der LGBTQ+-Community sind, die Wahrscheinlichkeit, dass keine deutschen Fußballer in größeren Vereinen schwul sind, geht also gegen 0. Doch nun stellt sich natürlich die Frage, warum sich noch keiner von ihnen geouted hat.
Als der schwule Ex-Fußballspieler Thomas Hitzlsperger im Juli 2022 zu diesem Thema interviewt wurde, vermutete er: „Ich war zwölf Jahre lang in unterschiedlichen Profiteams, ich kenne die Vorurteile. Die Sorgen vor negativen Folgen sind groß. Es wird zu wenig über das Positive nachgedacht.“
Doch was sind die konkreten Vorurteile über die Hitzlsperger hier spricht? Nach etwas Recherche fand ich eine Publikation der European Gay and Lesbian Sport Federation (EGLSF) mit dem Titel „Kick it out – Homophobie im Fußball“. Die Autorin dieses Textes ist Tanja Walther-Ahrens, eine ehemalige Bundesliga-Fußballspielerin, die sich 2002 als lesbisch outete. Und auch wenn die Publikation 2006 veröffentlicht wurde, hat sie auch 16 Jahre später nur wenig an Relevanz und Aussagekraft verloren. Ihre Inhalte können uns helfen zu verstehen, was es mit dem Mangel von queeren Fußballspielern auf sich hat.
In ihrer Publikation bezeichnet Walter-Ahrens die Fußballwelt als „einen der konservativsten Bereiche unserer Gesellschaft“, der jahrzehntelang von Männern dominiert wurde (und meiner Meinung nach immer noch von ihnen dominiert ist). Besonders paradox sei, dass Fußball eine sehr berührungsintensive Sportart und Körperkontakt zwischen den Spielern – ob beim Umarmen nach einem Torerfolg oder dem Trösten bei einer Niederlage – völlig normal ist. Gleichzeitig herrsche große Angst vor den fremden, queeren Personen, denen man meist mit Intoleranz oder sogar mit Aggressivität begegne. Zudem seien alle möglichen homophobe und sexistische Stereotype an der Tagesordnung. Ein paar besonders feindliche verbale Äußerungen erwähnt Walter-Ahrens auch in ihrer Publikation: „Homosexualität ist abnormal. Ich werde niemals Homosexuelle in mein Team berufen.“ (Otto Baric, Teamchef des kroatischen Nationalteams (2004)) und „Im Bett kann eine Frau so herrlich sein, auf dem Fußballplatz wird sie mir immer schrecklich vorkommen.“ (Rudi Gutendorf, deutscher Trainer (1982)) sind zwei schreckliche Beispiele.
Laut der ehemaligen Fußballspielerin ist die Sportart eng mit heterosexueller, monokultureller Männlichkeit und dem Bild des starken Manns verbunden. Wenn Frauen* Sport treiben, nehmen sie oft männlich definierte Eigenschaften an und erscheinen besonders stark und mutig. Sie überschreiten die Grenzen von Weiblichkeit zu Männlichkeit. Für Männer sei ein solcher Schritt schwieriger, denn sobald sie nicht dem klassischen Rollenbild entsprächen, werde ihnen schnell Homosexualität angedichtet. Dies hat sich seit 2006 zum Glück verbessert. Androgynie ist in vielen Teilen der Welt gesellschaftlich akzeptierter und Stars wie Harry Styles und Timothee Chalamet werden für ihre „gender-bending („geschlechtsbeugende“) looks“ gefeiert. Doch sie sind keine Fußballstars.
Denn in der Fußballwelt ist das Zeigen von „weiblichen“ Wesensarten eine Schwäche, weibliche Facetten werden abgewertet und ausgegrenzt. Die Kulturwissenschaftlerin Almut Sülze verkündete in ihrem Beitrag zu Martin Dinges‘ Buch „Männer – Macht – Körper“: „Die Männlichkeit des Fußballs funktioniert über die Abgrenzung zu Frauen und Schwulen, die in Sexismus und Schwulenfeindlichkeit münden“. Schlechte männliche Spieler werden als „Mädchen“ oder „Schwuchtel“ bezeichnet, während Fußball spielende Frauen als „Mannweiber“ oder „Lesben“ abgetan werden.
Verständlicherweise haben männliche schwule Fußballstars Angst davor, wie ihre Kollegen bei einem Coming-Out auf sie reagieren und fragen sich, ob sie selbst direkt von Homophobie betroffen sein würden. Aus einem riesigen, verworrenen Netz aus Stereotypen und Vorurteilen kann man nur schwer entkommen und es zu zerstören erscheint beinahe unmöglich. Dabei könnte gerade dies ein Ziel der professionellen Fußballspieler sein, schließlich sind sie reich, genießen ein hohes Ansehen, haben große Fangemeinden und vor allem eine riesige Reichweite. Mit Jake Daniels und Josh Cavallo als prominente Beispiele ist es hoffentlich nur eine Frage der Zeit, bis es zu weiteren Coming-Outs in der Fußballszene kommt und das bald vielleicht sogar in Deutschland.
Beim Frauenfußball sind lesbische Spielerinnen schon seit Jahren keine Seltenheit mehr: Bei der WM 2019 traten 51 lesbische und bisexuelle WM-Spielerinnen aus 15 Ländern an. Die Fußballerinnen Anna Blässe und Lara Dickenmann, die zusammen beim VfL Wolfsburg spielen, sind sogar verheiratet.
Die gedrohten Sanktionen der FIFA gegen das Tragen der „One-Love-Binde“ und das Verbot von Regenbogen-Farben bei der WM in Katar zeigen klar, dass sich die Fußballwelt zurzeit politisiert. Von vielen Seiten wird dies kritisiert, unter anderem vom französischen Staatschef Macron. Doch wer weiß, vielleicht treibt das Phänomen die konservative, männerdominierte Instanz nun doch zu ein bisschen Fortschritt.