Katja ist 20, Deutschbelarusin und Studentin, macht Bildungs- und Aufklärungsarbeit, tritt in Online-Formaten und auf Kundgebungen auf, arbeitete für den X3-Podcast, ist Teil der belarusischen Demokratiebewegung und Mitglied im Verein Razam e. V. Das ist ganz schön viel. Sie wünscht sich, dass politisch Aktive sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, sondern unterstützen in der Gleichzeitigkeit all dieser Konflikte, Probleme, Sorgen, Kriege, Nöten und Krisen. Und dennoch weiß sie, dass sie um Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsspannen ringen muss: “Niemand wird sich so für ein politisches Problem interessieren wie Du, wenn die Person keinen Identitätsbezug zu dem Thema hat. Das ist etwas, was ich sehr schmerzlich gelernt habe.”
Unsere Autorin Diana hat mit ihr über ihre Arbeit, ihre deutschbelarusische Identität und Kartoffelpuffer gesprochen. Weil sie findet, dass wir Belarus nicht vergessen dürfen.
Seit zwei Jahren beschäftigt sie sich mit Politik. Ihre Schwerpunktthemen sind Belarus, Kasachstan und die Ukraine. Nach ihrem Abitur leistet sie einen Freiwilligendienst in Usbekistan, sie will neue Erfahrungen und Eindrücke sammeln. “Da habe ich zum ersten Mal die Bandbreite des Begriffes postsowjetisch verstanden”, sagt Katja, die dieses Label für sich selbst nicht verwendet. Denn “ich bin ohne Sowjetunion aufgewachsen”, erklärt sie, “Einen sowjetischen Nachhall”, spürt Katja dennoch.” Ich glaube, es ist aber eher Entsowjetisierung, über die ich spreche”, sagt sie. Ich frage sie nach dem Begriff postsowjetisch, sie antwortet: “Er wird für Länder genutzt, die überhaupt nicht zusammenpassen. Die haben sicherlich durch diese gemeinsame staatliche Erfahrung irgendwo Gemeinsamkeiten, z. B. dahingehend, dass alle Kulturen eine starke Russifizierung erlebt haben, – auch innerhalb Russlands. Aber auch da waren die Erfahrungen sehr unterschiedlich und die Verallgemeinerung unter dem Begriff postsowjetisch wird diesen Spannungen nicht gerecht. Georgien hatte unter Stalin [Anm. d. Redaktion: Stalin stammte aus Georgien.] beispielweise eine privilegierte Position mit Steuerbefreiungen, während Zentralasien ausgebeutet wurde.”
Wenn postsowjetisch von studierten Expert*innen auf diesem Gebiet verwendet wird, die sich tief in die Historie eingegraben haben, findet Katja den Begriff “manchmal okay”. Eigentlich möchte sie davon loskommen. Vielleicht nicht zuletzt, weil wir Länder, die Teil der UdSSR waren, häufig nur mit diesem Stempel betrachten. Dabei reicht ihre Geschichte tiefer als zu Stalin und Lenin, – und seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 läuft sie losgelöst von diesem riesigen Staatenbund, der Geschichte ist.
Für Politik hat sie sich schon immer interessiert, Politik dabei aber immer als etwas wahrgenommen, in das sie sich ohne persönliche Betroffenheit einarbeitet. “Ich konnte im Politikunterricht in der Schule einfach munter diskutieren und verschiedene Positionen einnehmen, weil es mir erstmal per se um nichts ging”, führt Katja weiter aus. Als Fridays For Future sich 2018 gründet, steht sie einige Male auch auf der Straße. Ihre Politisierung beginnt mit dem Bewusstsein, dass ihr theoretisches Wissen kein externes ist, sondern erfahrbar. Durch ihren Freiwilligendienst erkennt sie, dass sie weiß ist und dass ihr angelesenes Wissen über die Sowjetunion in reale Lebenswelten wirkt. Sie spricht mit queeren Menschen und Aktivist*innen in Usbekistan. Katja wird wütend, bevor sich die Akzeptanz einstellt: “Zuerst wollte ich am liebsten alles verändern, dann habe ich gelernt, dass es hier nicht meine Rolle ist, alles verändern zu wollen und das zu dürfen. Aber ich kann die Leute damit unterstützen, in dem ich erst einmal beobachte und zuhöre.”
Was ihr dabei auffällt? Die Vorbilder sind, je weiter man gen Osten geht, andere als hier in Deutschland, wenn es um Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit geht. Und: Es gibt so viel Bewusstsein für dieselben Themen, die durch die geographische Distanz total verloren gehen. Um das zu ändern, schreibt sie auf ihrem Blog Usblogistan, bis sie wegen Corona wieder zurück nach Deutschland muss.
über Kartoffelpuffer in herzhaft und in süß
In Deutschland werden Kartoffelpuffer süß gegessen, die belarusischen Draniki hingegen herzhaft. Bei der Frage danach, wie Kartoffelpuffer zu essen sind, hat es in Katjas Familie gekracht, berichtet sie lachend. Ich frage Katja, ob sie das Gefühl kennt, zwischen den Stühlen zu sitzen, ob ihre deutschbelarusische Identität Reibungen erzeugt. Sie antwortet: “Für mich war es ein ziemlich großes Spannungsfeld, wenn es um Lebensumstände und Lebenswirklichkeiten ging. In Deutschland war ich immer sehr wohlbehütet, das war meine Komfortzone. In Belarus habe ich immer Zeit gebraucht, um mich umzugewöhnen. An die Gerüche, die Lebens- und Familienstruktur. Es erschien mir alles viel umständlich, enorm schwer und als würde jedes Bestreben von außen gehemmt werden. Dieses Gefühl hatte ich später auch in Usbekistan.”
Katja führt diese Beobachtung zum einen auf die Mentalität zurück, zum anderen aber auch maßgeblich auf die äußeren Umstände, die in Belarus geprägt sind von Diktatur und fehlenden Ressourcen. Während sie erzählt, lacht sie zwischendurch. Dann wird die Stimme wieder sehr ernst. Sie hat in Usbekistan gelernt, die Kleinigkeiten zu schätzen und durch ihre belarusische Identität auch mal Strenge erfahren. Es ist diese Mixtur der persönlichen Erfahrung von unbeschwerten Leichtigkeit in Deutschland und dennoch dieses Verständnis für eine Armut, die selbst nicht erlebt wurde, aber als generationales Trauma auch das eigene Sein formt, die auch ich durch meine deutschrussische Identität kenne. “Es war schon immer sehr ambivalent”, fasst Katja zusammen.
Mein Nicken zwischendurch sieht sie genauso wenig wie meinen Notizzettel, der immer voller und bunter wird. Wir telefonieren bloß. Ihre Stimme ist zärtlich, weich und freundlich. Ihre Worte klingen nicht gewählt, sondern ehrlich und unmittelbar und trotzdem sind sie bedacht. Wenn sie lacht, klingt sie tiefer. Katja-am-Telefon ist herzlicher als die Katja in meinem Kopf, die Katja, die sich dort durch ihren Instagramaccount @kaciaberlin eingenistet hat. Es überrascht mich nicht. Wer so reflektiert und klug ist, kann nur mutig handeln, oder?
über Lebensaufgaben und Diktaturen
“Mit den Belarus-Protesten sind postsowjetische Diktaturen im Allgemeinen irgendwie an meine Identität geknüpft worden und zwar so eng, dass ich das, glaube ich, nie wieder loslassen werde. Ohne pathetisch klingen zu wollen: Das ist schon zu einer gewissen Lebensaufgabe geworden, mich damit auseinanderzusetzen”, erklärt sie mir. Katja vernetzt sich mit anderen, die dieselben oder ähnliche Themenschwerpunkte verfolgen. So ist sie beispielsweise fester Bestandteil der belarusischen Diaspora in Deutschland und entsprechend im Verein Razam e. V. aktiv. Ich stelle mir das sehr schmerzlich vor.
“Es ist in jedem Fall schmerzhaft”, antwortet Katja, “alles ist schmerzhaft an diesen ganzen Erfahrungen, vor allem weil es nicht nur persönliche Erfahrungen sind, sondern es ein gewisser Kollektivschmerz ist. Der unterscheidet sich aber natürlich schon von Gruppe zu Gruppe. Der belarusische Kollektivschmerz ist nicht mit dem Ukrainischen zu vergleichen, weil das ein komplett anderer Kontext ist. Ich zweifle nicht daran, dass ich mich engagiere, sondern ich werde häufig mit der Frage konfrontiert, wie ich meine politische Arbeit gestalte und meine Positionen kommuniziere. Das ist etwas, das sich mit der Zeit ändert und sich den jeweiligen Gegebenheiten anpasst.”
Zu Beginn ist sie viel auf der Straße unterwegs, mit der Zeit verlegt sich ihre politische Arbeit zunehmend in Online-Räume – wegen Corona und den sinkenden Teilnehmer*innenzahlen. Ihr Instagramaccount @kaciaberlin hat fast 4.700 Follower*innen. Katja balanciert dort mit Themen und der Gleichzeitigkeit von dem, was gerade in der Ukraine passiert und den Geschehnissen in Belarus. Sie reflektiert sich selbstkritisch: “Für mich stellt sich nicht die Frage, ob ich etwas mache, sondern nur, wie ich etwas mache: Was ist da der beste, effizienteste Weg? Ich frage mich auch immer nach Projekten: Okay, was ist gut gelaufen und was nicht? Gerade in Konfliktsituationen. Das ist das, was mich am meisten beschäftigt.”
In ihrem privaten Umfeld versucht sie, sich erst einmal so unpolitisch wie möglich zu bewegen: “Ich möchte meinen background nicht immer direkt nach außen tragen, weil das immer auch wieder ein Erklären bedeutet. Wenn mich jemand darauf anspricht, versuche ich mit aller Fürsorge und Geduld alle Fragen zu beantworten. Ich glaube nämlich, dass viele unglücklich formulierte Fragen in guter Absicht stellen. Aber das kostet unfassbar viel Kraft.”
über Gleichzeitigkeit
Ich frage Katja, ob sie stolz auf ihre politische Arbeit ist. Sie antwortet: “Ja und nein. Ich bin stolz auf meinen produktiven Umgang mit diesen Krisen, aber eigentlich kann ich nicht stolz darauf sein, weil es zu viel kostet. Stolz ist nicht die vordergründige Emotion, die ich bei und durch meine politische Arbeit spüre, sondern eher Zugehörigkeit – gerade in meiner belarusischen Community und der Arbeit im Verein Razam e. V. Ich bin auf uns stolz und unsere gemeinsame Arbeit, darauf wie unser Verein arbeitet, auf meine Mitstreiter*innen. Darauf bin ich wirklich stolz. Das ist wirklich etwas, was ich sehr wertschätze. Ich platze vor Stolz, wenn ich unseren Vorstandsvorsitzenden Anton auf Veranstaltungen sehe und wie professionell und kompetent er sein Wissen teilt. Da sehe ich, was für einen Außeneindruck unser Verein hinterlassen kann und darauf bin ich stolz. Es ist die Summe, von allem, was passiert und die Gleichzeitigkeit von großer Freude, dass wir einander haben und die Trauer, dass das alles passiert. Stolz ist keine Emotion, die ich bei mir selbst verspüre.”
Katjas Engagement außerhalb von Online-Räumen findet auch in Schulen statt. “Für mich ist es am bewegendsten, wenn ich Kindern und Jugendlichen erzählen kann, was bei uns passiert. Geballte Aufmerksamkeit, Neugier und aufrichtiges, ernsthaftes Interesse, – das ist das Allerschönste”, sagt sie. Das merkt man. Sie erzählt sehr schön davon, wie sie suna spielt, wie sie mit theaterähnlichen Gesten das Ausmaß der belarusischen Gewalt zeigt ohne junge Menschen der Gefahr einer Sekundärtraumatisierung: Katja erzählt von der Wahlmanipulation, die bis heute nicht eingestanden wird. Sie nimmt ein leeres weißes Blatt und faltet es, während sie spricht, während sie erzählt, was Wahlmanipulation bedeutet. Sie wirft das gefaltete Blatt in eine imaginäre Wahlurne. Alle hören zu. “Ich merke dann, dass ich diese Geschichten wirklich als Geschichten erzählen kann. Am Ende ist dann so eine gewisse Stille im Raum, wenn ich fertig damit bin, zu erzählen, was bei uns passiert ist”, sagt Katja. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass man einen emotionalen Eindruck zu einem politischen Thema hinterlassen kann, ohne Fotos, sondern nur durch sprachliche Bilder, unterstützt mit Gesten aus dem Theater. Es kommt mir absurd vor, Literatur und Theater, das ist meine Leidenschaft, und im Ethikunterricht habe ich mich ganz vehemmt gegen Gewaltdarstellungen in Videospielen ausgesprochen. Aber Katja hat recht: Kindern sollte man keine Gewalt zeigen; auch nicht, wenn man sie so für politische Missstände sensibilisieren will.
“Ein freies Belarus und eine sichere Ukraine, auch wenn ich weiß, dass es da nicht aufhören wird. Ich wünsche mir, dass unsere Arbeit gesehen und wertgeschätzt werden. Hier entstehen gerade in ganz Osteuropa Freiwilligennetze, die auf jede erdenkliche Art und Weise helfen. Ich wünsche mir, dass sich Freiwillige nicht mit Almosen, mit Lippenbekenntnissen, zufriedengeben, sondern dass wir ernsthaft die Anerkennung bekommen, für all das, was wir leisten, – und dass diese auch eine strukturelle Dimension erfasst”, erklärt sie, “denn das würde bedeuten, dass wir auf einer ganz anderen Ebene mit staatlichen Institutionen und allen großen Vereinen arbeiten können, dass unsere Expertise wertgeschätzt wird. Das wäre auch noch einmal ein ganz anderer Anreiz für Außenstehende, unsere Arbeit zu unterstützen, nicht nur durch Spenden, sondern sich uns anzuschließen.” Katja appelliert da auch an die Verantwortung der Medien. Es sollte mit Ehrenamtlichen, die sich politisch engagieren, gesprochen werden statt über sie, – nicht nur, weil sie die Aufmerksamkeit für ihre Themen verdienen, sondern auch um faktische Fehler zu vermeiden. Ich muss an Melina Borčak denken, die seit Monaten aufzeigt, wie genozidverherrlichend der SWR im Podcast Sackreis über den Genozid an Bosniak*innen berichtete.
über das, was da noch kommt
2020 war für Katja gefühlsmäßig ein Jahr der Gegensätze: Zum einen der Schockschmerz über die Wahlmanipulation und das gewaltsame Vorgehen gegen Protestierende in Belarus. Und zum anderen Europhie, Romantisierung, Hoffnung. Katja glaubt, das hat sie wie viele Belarus*innen gebraucht, um zu überleben, um mit dieser “riesen Welle von Gewalt” klarzukommen. Ihr scheint als sei der Blick 2022 abgekühlterer. Nicht pessimistisch, aber rationaler. “Der Schock des russischen Angriffskrieges ist erst einmal überwunden, auch wenn die Nachrichten natürlich immer noch richtig reinhauen”, sagt sie. Schließlich zeige sich in der Ukraine eine neue Dimension des Schreckens. Katja glaubt, “das ist der geringste Trost, den ich dieses Jahr gefunden habe: dass in Belarus noch kein Krieg herrscht.”
Katja ist gegen Russozentrik und für Waffenlieferungen an die Ukraine. Ich frage sie, ob sich der Konflikt in Belarus ohne Gewalt lösen lässt. Sie antwortet:” Die Freiheit von Belarus ist zu diesem Zeitpunkt der Geschichte nicht mehr gewaltfrei zu erreichen. Der Moment wäre vielleicht 2020 da gewesen. Mittlerweile sind alle so geprägt von den Kriegsbildern aus der Ukraine und viele Menschen sind aus Belarus erst einmal in die Ukraine geflüchtet, sodass viele schon zweimal ihr Zuhause verloren haben. Diese Eindrücke färben ab, gerade auf die politisch Aktiven, die sowieso schon hinschauen. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Gerade scheint es ein Abwarten, es formieren sich neue Strukturen. Aber wie es weitergeht, das weiß niemand von uns.”