Nie zu spät für queeres Glück: Eine Geschichte über die Liebe im Alter

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„Es ist nie zu spät, um sein Leben zu verändern. Wir haben immer die Freiheit, neue Entscheidungen zu treffen!“ – Das wissen Dorle und Christel besonders gut.

Dorle und Christel haben miteinander das gefunden, was für viele der Traum ist: Das große Glück in der Liebe. Eine Überraschung war es aber für beide. Sie haben nämlich 2022 geheiratet, im Alter von 80 und 67 Jahren. Jetzt wollen sie, dass auch andere queere Menschen wissen: „Es ist nie zu spät, sich selbst zu finden!“

Der Weg zueinander hätte für beide unterschiedlicher nicht sein können: Christel wusste schon im Alter von 10 Jahren, dass sie andere Mädchen interessanter fand als Jungs und hat immer allein gelebt, bis Dorle bei ihr einzog. Dorle wiederum hat im Alter von 21 Jahren ihren inzwischen ex-Mann geheiratet, und mit ihm eine Familie mit 2 Kindern und 5 Enkelkindern gegründet. Ein Jahr vor der Trennung wurde noch die goldene Hochzeit gefeiert.

Dass Dorle sich auch zu Frauen hingezogen fühlen könnte, wäre ihr vor Christel nie in den Sinn gekommen.

„Ich hatte einen Ehemann, den der Beruf sehr forderte und habe mich mein Leben lang immer nur um andere gesorgt und keinen Blick auf mich selbst gehabt. Als ich Christel kennengelernt habe, fing ich auf einmal an, mich selbst anzugucken und da war diese große Zuneigung für sie. Es war eine Seelenfreundschaft“, erzählt Dorle über das erste zaghafte Erwachen ihrer Gefühle für Christel.

Kennengelernt haben sich die beiden in einem kirchlichen Arbeitskreis zum Weltgebetstag, einer ökumenischen Bewegung, die von Frauen auf der ganzen Welt gegründet wurde, die zusammen über Grenzen hinweg ihren Glauben feiern wollen. Die Kirche und der Glaube haben im Leben beider Frauen immer eine wichtige, aber auch zweischneidige Rolle gespielt. Beide kamen sehr früh mit der Kirche in Kontakt. „Ich bin nicht von meinem Elternhaus, sondern von der Kirchengemeinde religiös sozialisiert worden, und diese Kirche sagte mir, mein Begehren sei Sünde“, erinnert sich Christel, die schon sehr früh von ihrer Zuneigung zu Frauen wusste. Sie hatte einen kirchlichen Berufsweg als Gemeindepädagogin gewählt, und jahrzehntelang versucht, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken „denn mir wurde eingebläut, diese Gefühle seien in Gottes Augen falsch und ich wollte vor Gott doch richtig Leben.“

Dazu kam auch noch, dass es damals keine Informationen zu homosexuellen Identitäten gab. „Früher haben wir nie über andere Lebens- und Liebesformen gesprochen. Ich war 35, als ich zum ersten Mal ein Buch las, in dem Frauen andere Frauen lieben und das hat mich vor Freude zum Weinen gebracht. Ich freue mich sehr darüber, dass heutzutage Menschen sagen können, dass sie jemanden vom gleichen Geschlecht lieben oder ein anderes Geschlecht sind. Als Kind gab es für mich keine Filme, keine Bücher, mit deren Protagonistinnen ich mich identifizieren konnte, nix. Ich war sehr allein mit allen meinen Fragen und Ängsten.“

1995 führte die Unterdrückung ihrer Gefühle zu einem psychischen Zusammenbruch, doch die Klinik, in die sie daraufhin eingewiesen wurde, war christlich geprägt. „Meine Therapeutin sagte damals zu mir, wenn ich als Lesbe leben will, dann würde ich ein ‚behindertes Leben‘ führen.“ Trotzdem fand Christel den Mut, zu sich selbst und ihren Gefühlen zu stehen. „Ich habe für mich die Entscheidung getroffen: Die Kirche ist für mich nur Arbeitgeberin und ich will mich in meinem Glauben selbst weiterentwickeln und mich nicht mehr fesseln lassen. Mir wurde so eindeutig gesagt, dass ich ein falsches Leben führe, ein ‚behindertes Leben‘! Doch wenn es diesen Gott wirklich gibt, dann hat er mich geschaffen, wie ich bin. Ich bin ein wunderbares Geschöpf göttlicher Liebe und ich stehe in dieser Welt und freue mich.“ Kraft hat ihr in diesem Prozess die ökumenische Arbeitsgruppe „Homosexuelle und Kirche“ (kurz: HuK) gegeben.

Als Christel 2015 in den Ruhestand ging, hielt sie zum Abschied eine Rede, in der sie von der biblischen Geschichte der “Gekrümmten Frau” sprach, die von Jesus aufgerichtet wurde [Lukas 13, 10-17]. „Damit habe ich mich nämlich identifizieren können. Ich habe meine lesbische Identität nie versteckt, aber habe sie auch nie groß vor mir hergetragen und dann habe ich genau diese Geschichte der gekrümmten Frau 130 Menschen als meine Lebensgeschichte erzählt und mich geoutet. Als meine Ansprache zu Ende war, herrschte zunächst Schweigen, aber dann standen alle auf und applaudierten mir. Das war unbeschreiblich schön für mich. Ich fühlte mich sehr geehrt und angenommen. Einige waren zunächst überrascht über mein Outing, aber wenn Menschen andere Menschen kennen und sie schätzen und akzeptieren, dann entwickelt man auch für andere Lebensarten Verständnis.“

Dorle hatte andere, aber ähnliche Erfahrungen mit dem Thema Glaube und Kirche gemacht. „Ich habe immer das Wohlergehen von anderen vor mein eigenes gestellt, und gedacht, ich würde im Himmel einen Orden dafür kriegen, aber meine Seele verhungerte.“ Einen Wandel brachte ihr der Kontakt zum Arbeitskreis zum Weltgebetstag, in dem sie auch Christel kennenlernte. „Der Kreis hatte ein weniger enges Bild von Gott und ich konnte aufatmen, weil dieser Gott mehr Weite gab. Wir haben viele Veranstaltungen und Reisen organisiert und mein Leben weitete sich.”

In dem Arbeitskreis freundeten sich Dorle und Christel sehr schnell an. Für Christel kam aber zunächst nicht mehr in Frage, immerhin war Dorle ja verheiratet und auch Dorle selbst hatte es vorher in über 50 Jahren Ehe nie in Erwägung gezogen, fremdzugehen, „aber so ein Gefühl wie mit Christel habe ich noch nie gespürt, es erfüllte mich irgendwann ganz.“ Dorle war 72 und Christel 55, als ein einjähriges hin und her begann. Dorles Mann verbot ihr zunächst den Kontakt, als er erfuhr, dass sich seine Frau zu Christel hingezogen fühlte, und beide versuchten sich auch daran zu halten. Als sich Christel und Dorle beim evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart nach einem halben Jahr ohne Kontakt wieder sahen, wurde beiden bewusst: ohneeinander leben möchten sie nicht mehr.

Es folgte vor allem für Dorle und ihre Familie eine schwierige Phase. Oma lässt sich nach über 50 Jahren Ehe scheiden, und dann auch noch, um mit einer anderen Frau zusammen zu sein. Das ist ein Gedanke, der viel Auseinandersetzung mit dem Thema erfordert, damit man ihn akzeptiert. Inzwischen ist aber sogar das Verhältnis zu ihrem Ex-Mann gut und zur Hochzeit kamen alle Kinder und Enkelkinder mit ihren Familien.

Der Gedanke, jemals heiraten zu können, war für Christel ihr Leben lang ein weit entfernter Traum. „Das war undenkbar in meiner Zeit, aber als der Prozess begann, die Ehe für gleichgeschlechtliche Beziehungen zu legalisieren, übertraf das schon alle meine Vorstellungen.“ Beim Gedanken, Dorle eines Tages zu heiraten, war sie aber auch zögerlich. „Immerhin hat sie das schon einmal mitgemacht und schon einmal versprochen, mit jemandem zusammenbleiben, bis dass der Tod sie scheidet. Ich hätte auch ein Nein zur Hochzeot von Dorle akzeptiert.“

Trotzdem fanden die beiden ihren eigenen Weg für eine Hochzeit. Dorle erzählt: „Es war mir wichtig, unsere eigenen Eheversprechen zu formulieren und einen eigenen Segen zu haben, um nicht noch einmal die Worte ‚bis dass der Tod euch scheidet‘ sagen zu müssen. Ich habe schon einmal mein Versprechen vor Gott gebrochen und ich kann jedem Paar nur raten, so etwas nicht leichtfertig zu versprechen, denn Trennungen können auch lebenswichtig sein.“

Im Endeffekt heirateten beide standesamtlich und kirchlich. “Die kirchliche Trauung und der Segen umhüllte uns wie ein liebevoller Mantel“, so Dorle. Das Eheleben könnten sich die beiden auch nicht schöner vorstellen. „Ich war noch nie in meinem Leben so glücklich wie in diesen letzten 7 Jahren mit Dorle zusammen”, erzählt Christel. „Freunde haben mir oft den gut gemeinten Rat gegeben, ich hätte zu hohe Erwartungen an eine Beziehung. Seit meinem Leben mit Dorle kann ich aber sagen, meine Erwartung war nicht zu hoch.“ Das wichtigste sei, ehrlich und offen über alles reden zu können und das Gegenüber auf Augenhöhe mit eigenen Schwächen und Stärken anzuerkennen. „Ich will Dorle nicht glücklich machen. Ich will, dass Dorle glücklich ist. Und dass ich glücklich bin.“

Was die beiden anderen Menschen in ihrem Alter raten würden? Diese Antwort kommt bei ihnen sehr schnell und bestimmt: „Es ist nie zu spät, um sein Leben zu verändern. Wir haben immer die Freiheit, neue Entscheidungen zu treffen!“ Es lohne sich, so Christel. „Wir haben viele Tage, die nennen wir Tage mit Goldrand. Das sind Tage, mit alltäglichen Erlebnissen, die uns mit Glück und Dankbarkeit füllen.”

Ich bin hier, um mir Frust von der Seele zu schreiben und etwas Liebe zu verbreiten.