Blumen

2023-06-20_mT_Beitragsbild_Sophia_Blumen

Blumen schmücken Hannahs Lebensweg, den Sophie beschreibt, weil sie meint, „dass auch die kleinen Dinge in Wechselwirkung mit einem selbst stehen können“.

Es gibt Dinge, die einen ein Leben lang begleiten: Menschen, Orte, Erlebnisse. Man schreibt diesen Dingen meist nicht eine direkte Bedeutung zu, sie gehören einfach zu einem, wie zum Beispiel die Lieblingsfarbe oder das Verhältnis zu den Eltern. Wenn man aber beginnt genauer darüber nachzudenken, dann erkennt man gewisse Muster, welche die eigene Selbstbeziehung und die Beziehung zur Gesellschaft mit diesen Dingen unweigerlich verbinden. Trotz alledem vergisst man vielleicht, dass auch die kleinen Dinge in Wechselwirkung mit einem selbst stehen können.
1995
Hannah umklammert die Hand ihres Vaters. Es ist ein angenehmer Freitagmorgen, die Sonne scheint und die Vögel singen schon munter in den Bäumen. Hannah hat in der Grundschule die verschiedenen Vogelarten kennengelernt und erzählt ihrem Vater nun begeistert von Meisen, Rotkehlchen und Spatzen. Sie liebt es an der frischen Luft zu sein, und so hat ihr Vater sie auf einen Spaziergang in den Wald mitgenommen. Die Erde unter ihren Füßen wirbelt herum und sie muss aufpassen nicht über die grob verstreuten Äste zu stolpern. Sie laufen immer weiter in den Wald hinein und plötzlich steht sie vor einer blauen Wand. Dies ist zumindest ihr erster Eindruck, denn bei genauerem Hinsehen, erkennt sie die vielen kleinen Blumen, blaue Waldblumen, wie Papa erklärt. Ganz fasziniert und vorsichtig, um auf keine der Blumen zu treten, geht sie ein Stück auf die Lichtung, um die Blumen genauer zu betrachten. Als ihre Mutter von der Arbeit nach Hause kommt, findet sie ein Glas mit blauen Blumen ihrem Küchentisch stehen.
1998
Hannah hält sich ein Taschentuch vor den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen. Obwohl das wahrscheinlich niemandem aufgefallen wäre, denn in der kleinen Kirche, weinen viele Menschen. Ihr Opa ist vor ein paar Tage gestorben und sie ist noch immer ganz geschockt. Sie hatte gewusst, dass es ihm nicht mehr so gut ging, aber dass er nun einfach nicht mehr da sein sollte, wollte und konnte sie nicht begreifen. Nach der Trauerfeier steht die Familie mit Bekannten am frisch zugeschaufelten Grab und treten nacheinander näher an das Grab, um ihre letzten Worte an den Verstorbenen zu richten. Ihre Mutter tritt gerade einen Schritt zurück und schaut sie erwartungsvoll an. Hannahs Augen brennen unangenehm und sie hat mittlerweile Kopfschmerzen. In ihrer rechten Hand umklammert sie eine Sonnenblume und tritt einen Schritt nach vorne.
2006
Mit klopfenden Herzen steht sie vor dem Spiegel ihres Zimmers und betrachtet sich kritisch. War die Bluse wirklich die richtige oder war das ein bisschen zu übertrieben? Hätte sie ihre Haare lieber glätten sollen? Überhaupt..stand ihr das rot wirklich so gut, wie sie noch im Laden gedacht hatte? Gleichzeitig hatte Maya sie auf ein Date eingeladen, also musste sie Hannah doch mögen, auch wenn das rot vielleicht nicht ihre Farbe war. Obwohl..sie dreht sich ein wenig. Eigentlich steht es ihr doch recht gut. Sie nimmt ihren Stoffbeutel vom Bett und im nächsten Moment klingelt schon die Haustüre. Sie erschrickt sich ein wenig und bemerkt erneut ihren Herzschlag. Maya sieht gut aus, eigentlich wie immer, lächelt und übergibt ihr einen Strauß Rosen.
2008
Applaus. Mit einem Lächeln tritt sie nach vorne, stolpert nur ein bisschen bei den Treppen auf dem Weg zu Bühne und steht schließlich neben ihren Klassenkameraden. Sie hat sich noch die befreiter gefühlt. Obwohl sie die Noten der Abschlussprüfung schon seit Wochen weiß, konnte sie es noch immer nicht glauben, dass sie jetzt einen Abschluss in der Tasche hatte. Endlich mit dem Leben machen, was sie will. Lächelnd versucht sie in der Menge ihre Eltern zu finden. Die Schulleiterin übergibt ihr das Zeugnis und eine rosa Tulpe. Alles ist perfekt.
2013
„…und das ist der Schlüssel für das Büro.“, lächelt die Frau beziehungsweise jetzt ihre Kollegin. Der erste Job. Vielleicht sollte sie aufgeregter sein, doch eigentlich ist Hannah ganz entspannt. Nach dem Vorstellungsgespräch war sie sich sicher gewesen, die Stelle zu bekommen. Eine Woche später hatte sie die Zusage. Es war nicht genau das, was sie hatte machen wollen, aber der Job hatte sich so angeboten und nun war sie doch motiviert in den Arbeitsalltag einzusteigen. Sie verabschiedet sich geht mit ihrem Rucksack in Richtung des Büros. Es riecht noch nach neuer Farbe. Sie ist gespannt, wie es sein wird hier zu arbeiten. Auf dem Tisch steht ein bunter Strauß mit Sommerblumen.
2021
Mayas Hand liegt auf ihrer Hüfte, während sie sich langsam zu den letzten Takten des Walzers drehen. Hannah war noch nie so froh, dass sie den Tanzkurs einige Jahre zuvor zusammen belegt hatten. Mayas Haare riechen unglaublich gut, denkt sie, während die ersten Töne des neuen Liedes erklingen. Es ist irgendwas Schnelleres, ganz kann sie es nicht zuordnen. Sie legt den Kopf leicht in den Nacken und blickt in Mayas strahlende Augen, dann ihre Lippen, ihren Hals, ihre Schultern. Bei dem Gedanken Leuten „ihre Ehefrau“ vorzustellen, wirbeln noch immer Schmetterlinge in ihrem Bauch. Sie blickt auf die Jacke, die Maya Wochen zuvor mit ihren Eltern ausgesucht haben musste. An die Brusttasche ist eine weiße Margerite gepinnt.
2030
Sie grinst ihre beste Freundin an, die ihr das Bündel überreicht. Sie sieht gut aus, besonders dafür, dass sie vor einer Woche ein Kind bekommen hat. Hannah freut sich für sie. Sie hatte sich schon immer Kinder gewünscht und Hannah war sich sicher, dass sie eine großartige Mutter sein würde. Das Baby schläft in ihren Armen einfach weiter und sie muss beim Anblick seiner kleinen Mütze lächeln. „Ich hab noch was für dich“, lächelt sie und nickt mit dem Kopf in Richtung der Narzissen, die sie nach dem betreten des Zimmers auf den Tisch gestellt hat.
2037
Es fällt ihr schwer zu atmen. Ihre Rippen schmerzen unfassbar sehr. Auch ihr Kopf tut weh und irgendwie auch ihr Knöchel. Am liebsten will Hannah schreien, aber hat nicht das Gefühl die Kraft dazu zu haben. Also schließt sie einfach die Augen. Als sie sie wieder öffnet fühlen ich die Schmerzen abgedämpfter an, nicht mehr so stechend und den Atem raubend. Sie versucht sich umzudrehen, um einzuschätzen, wo sie sich befindet. Krankenhaus..ganz eindeutig. Ein Arzt betritt das Zimmer und beginnt über ihren Zustand zu reden. Sie fühlt sich benebelt und es fällt ihr schwer ihm zuzuhören. Maya sitzt auf einem Stuhl schräg vor ihr. An ihrer linken Hand glänzt ein goldener Ring, sie hält einen Strauß mit weißen und lila Blumen.

Ich bin Sophie (21), lebe in Leipzig und denke manchmal, dass ich relativ erfolglos darin bin, meinen Platz in dieser großen und verwirrenden Welt zu finden. Darum schreibe ich neben meinem Musik-und Wirtschaftsstudium und versuche so etwas Ordnung in meinem Kopf zu bekommen. Am meisten beschäftige ich mich mit mentaler Gesundheit, Feminismus und Politik. Ich freue mich, hier die Gelegenheit zu bekommen, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen.