Buginesen

2023-06-13_mT_Beitragsbild_Martha_Bugis

Martha schreibt über den Umgang mit den fünf Geschlechtern der Bugis in Süd-Sulawesi, Indonesien und den Zusammenhang von Traditionen, Religionen und Politik.

Vor etwa drei Wochen brachen mein Freund und ich zu einem halbjährigen Auslandsaufenthalt auf – 10 Tage auf Bali, dann Work and Travel in Neuseeland und zum krönenden Abschluss einige Tage an der Westküste der USA. Eine komische Vorstellung für uns, die erst vor wenigen Monaten das Abitur erhalten hatten. In Vorbereitung auf die große Reise machten wir natürlich die obligatorischen Google-Suchen: Wetterbedingungen in der Regenzeit, Mückenarten auf Bali, schönste Orte in Neuseeland, und so weiter. Doch etwa zwei Monate vor der Abreise stießen wir auf eine unerfreuliche Nachricht: Das indonesische Parlament hatte ein Gesetz beschlossen, das künftig außerehelichen Sex verbieten sollte. Als unverheiratete Touristen erkundigten wir uns weiter: Sexuelle Beziehungen von Unverheirateten würden ab 2025 mit einem Jahr Gefängnis bestraft werden, sofern die Beschwerde eines Familienmitgliedes der involvierten Personen vorläge. Auch wenn für uns also klar war, dass wir nicht vom Gesetz betroffen waren und ohne Sorge nach Bali reisen konnten, empfand ich ein starkes Mitgefühl für die Betroffenen. Bisher galten außerehelicher Sex und homosexuelle Beziehungen in Indonesien zwar nicht als Straftat, jedoch wird beides in dem konservativen Land als Tabu betrachtet. Wenig überraschend wird hier auch die gleichgeschlechtliche Ehe nicht anerkannt, für die LGBTQ+-Community ist der Gesetzesentwurf also eine Katastrophe: Sie können sexuelle Vorlieben ohnehin nicht öffentlich ausleben und laufen darüber hinaus Gefahr, für ihre Sexualität ins Gefängnis zu müssen. Als eine Person, die aus einem demokratischen Land kommt, in dem die LGBTQ+-Community von den meisten akzeptiert wird, ist es schlimm zu sehen, wie sie in anderen Ländern behandelt wird. Ich vermutete, dass es auch Menschen mit Geschlechteridentitäten jenseits des binären Spektrums (Trans*personen, Nicht-Binäre Personen usw.) in Indonesien schwer haben. Umso mehr überraschte es mich, als ich bei weiteren Recherchen ein indonesisches Volk entdeckte, das fünf verschiedene Geschlechter anerkennt: die Bugis.

Die Buginesen oder Bugis sind eine ethnische Gruppe, die in Süd-Sulawesi, auf der drittgrößten Insel Indonesiens, beheimatet sind. Die Hauptreligion der Bugis ist der Islam und sie sprechen neben Indonesisch auch die eigene Landessprache Basa Ugi und weitere ähnliche Sprachvariationen. Sie sind ein sehr altes Volk, dessen austronesische Vorfahren sich bereits 2500 v. Chr. auf Sulawesi niedergelassen haben. Die meisten (männlichen) Buginesen verdienen ihren Lebensunterhalt als Reisbauern, Händler oder Fischer und buginesische Frauen helfen in der Landwirtschaft und arbeiten in den Häusern. Auch heutzutage werden viele der buginesischen Ehen arrangiert und finden oft unter Cousins statt.

Auch wenn die Forschung eher auf ein konservatives Wert- und Familienbild schließen lässt, gibt es etwas, das Forscher schon seit Jahrzehnten an den Bugis fasziniert: ihre Auffassung von Geschlechteridentitäten, welche seit mindestens sechshundert Jahren in der Kultur verankert ist. Die Bugis erkennen drei „sexes“/ biologische Geschlechter (männlich, weiblich, intersexuell), vier „genders“/ soziale Geschlechter (Männer, Frauen, „Calabai“ und „Calalai“) und eine fünfte Meta-Gender-Gruppe, die „Bissu“, an. Direkt vergleichbar mit unseren westlichen Vorstellungen von Geschlecht sind die fünf Gruppierungen der Buginesen nicht, doch gerade bei den aktuellen Debatten um das binäre System und verschiedene Geschlechteridentitäten fand ich es sehr interessant, einen näheren Blick auf sie zu werfen.

Die ersten beiden Geschlechter der Bugis sind „Makkunrai“ und „Oroané“, die der westlichen Auffassung von männlichen und weiblichen Cisgender entsprechen. Ausgefallener wirken auf uns „Calalai“ und „Calabai“: Calalai sind anatomisch weiblich und übernehmen viele der Rollen und Funktionen, die gesellschaftlich Männern zugeschrieben werden. Sie tragen Männerkleidung und kurze Haare, arbeiten mit Männern, rauchen Zigaretten und gehen nachts alleine raus. Trotz aller Verhaltensweisen werden Calalai nicht als Mann betrachtet und wollen selbst auch nicht zum Mann werden.

Das Gegenstück zu ihnen sind die Calabai, anatomisch männliche Personen, die in vielerlei Hinsicht Eigenschaften verkörpern, die traditionellerweise Frauen zugeschrieben werden. Oft lassen sie sich die Haare lang wachsen und tragen Kleider und Make-up. Calabai arbeiten in Beauty-Salons oder organisieren Hochzeiten. Aber auch sie betrachten sich nicht als Frauen und werden nicht als Frauen angesehen. Während Calalai jedoch dazu neigen, sich an die männlichen Normen anzupassen, haben Calabai für sich selbst eine besondere Rolle in der Bugis-Gesellschaft geschaffen: Sie verhalten sich auf eine Weise, die bei Makkurnrai-Frauen verpönt wären, tragen kurze Röcke, rauchen oder haben ein mehr sexualisiertes Auftreten. In der Bugis-Gesellschaft werden Calalai und Calabai manchmal missbilligt, doch zu großen Teilen als wichtige Mitglieder der Community angesehen und müssen sich nicht davor fürchten, attackiert oder belästigt zu werden.
Die fünfte Gruppierung, die Bissu, werden weder als männlich noch als weiblich angesehen, sondern als Repräsentanten des gesamten Gender-Spektrums. Viele von ihnen werden als intersexuell geboren und verkörpern spirituelle Wesen, die die Kraft von männlich und weiblich in sich tragen. Zum Beispiel tragen Bissu oft Blumen (weibliches Symbol), aber auch den „Keris“-Dolch (männliches Symbol). Sie nehmen in der Bugis-Religion eine schamanenähnliche Rolle ein und führen verschiedene Zeremonien durch. Bissu sind zudem in der Lage, als Vermittler zwischen Menschen und Geistern zu fungieren, weil sie weder als männlich noch als weiblich, weder als Frau noch als Mann gelten, sondern als eine Mischung aus allen vier.
Leider führt die jahrhundertelange Tradition der Bugis nicht zur Anerkennung ihrer Genders. Aufgrund der Kolonisierung Indonesiens durch die Niederlande sind die komplexen Traditionen der Geschlechtervielfalt von ethnischen Gruppen wie den Bugis verloren gegangen und ihre Konzepte von Geschlecht und Sexualität wurden entsprechend den modernen Religionen und Werten neu definiert. In den letzten Jahrzehnten ist die indonesische Gesellschaft weniger tolerant gegenüber nicht-binären Geschlechtervorstellungen geworden, was zur Verfolgung von Calabai- und Bissu-Personen geführt hat. „Als die Darul-Islam-Rebellionsbewegung von Kahar Muzakkar in den 1950er Jahren einen islamischen Staat errichten wollte, wurden die Bissu verhaftet, gefoltert und zur Buße gezwungen“, so Nurhayatai Rahman Mattameng, ein Bugis-Philologe. Einigen Bissu wären die Köpfe kahl geschoren worden, um sie öffentlich zu beschämen; einige seien sogar getötet worden. Alle Betroffenen wurden zudem gezwungen, To Latang, der angestammten Religion der Bugis, abzuschwören und stattdessen eine der offiziell anerkannten Religionen Indonesiens zu wählen.

Auch in der jüngeren Vergangenheit ist die LGBTQ*-Community in Indonesien immer wieder von Hass und Gewalt betroffen gewesen. Im Jahr 2001 brannten islamische Extremisten den Hauptsitz von GAYa Celebes, einer Schwulenrechtsorganisation in Makassar nieder. 2018 wurden Transgender-Frauen in der indonesischen Hauptstadt Jakarta zusammengetrieben und in Haftanstalten gebracht. Aktuell erleben Bissu, Calalai und Calabai eine Menge Stigmatisierung und Diskriminierung, die leider mit dem wachsenden Selbstbewusstsein des politischen Islam zunimmt. Beim Interview mit der BBC prophezeite Eka, Chef-Bissu in Segiri, den Bissu eine düstere Zukunft: „Die Zahl der Lehrer mit Kenntnissen über die Bissu-Traditionen nimmt ab. Auch das Interesse der Menschen, als Calabai zu leben, ist weniger geworden. In Zukunft werden sie vom Aussterben bedroht sein.“

Doch manche wie der Bugis-Aktivist und Anthropologe Halilintar Lathief haben noch Hoffnung. Seine Organisation Latar Nusa kämpft für die Wiederbelebung der Bissu- und Calabai-Kultur, indem sie die traditionelle Literatur der Buginesen bewahrt und das Volk befähigt, die wirtschaftlichen Vorteile ihrer rituellen Rollen zu nutzen. Als er von der BBC interviewt wurde, verkündete er: „In den ersten Tagen wollte aufgrund des Traumas der Verfolgung, die sie erlitten hatten, niemand Bissu werden oder behaupten, einer zu sein. Sie hatten Angst, verhaftet oder getötet zu werden. Jetzt, nach einigen Jahren, gibt es viel mehr Menschen, die sich als Calabai identifizieren, und mehr, die stolz darauf sind, Bissu genannt zu werden.“
Für uns bleibt also nur zu hoffen, dass die Kultur der Buginesen noch für viele Jahre erhalten bleibt und auch Bissu und Calabai weiter für ihr Bestehen kämpfen. Denn in viel zu vielen Teilen der Welt müssen Menschen auch heutzutage darauf verzichten, ihre Identität ausleben zu können. Und wer weiß, vielleicht reise ich mit meinem Freund beim nächsten Mal nicht nach Bali, sondern nach Sulawesi.

Hi, ich bin Martha (17) und lebe in Leipzig. Schon seit ein paar Jahren interessiere ich mich für Feminismus, genderspezifische Themen und Künstler*innen, die sich mit diesen Aspekten beschäftigen. Ich liebe es Texte zu schreiben, vor allem Erfahrungsberichte, in denen ich alle meine Gefühle rauslassen kann. In meiner Freizeit treffe ich mich gerne mit Freunden, spiele Bass, gehe zum Thaiboxen und engagiere mich bei der Schüler*innenzeitung meiner Schule in der Chefredaktion.