Heute ist der Transgender Day of Remembrance, ein Gedenktag für die Opfer und Betroffenen von transfeindlicher Gewalt. In „Passing: Überlegung in 4 Takten“ nimmt Beau uns mit auf eine Reise an verschiedene Orte, die eins gemeinsam haben: Passing spielt überall eine Rolle. Was Passing für Beau bedeutet und warum er vielschichtige Gefühle dazu hat, erfahrt ihr im Text.
Ich erinnere mich an den essentiellen Rausch der Pariser Metro. Einsteigen, Aussteigen, sich von warmen Körpern zur Seite drängen lassen in einer Flut aus heißem Wind, Schweißgeruch, das Geräusch von Metall auf Metall, sekundenlange Dunkelheit, Gesichter, die hinter Masken hervor luken, und dazu die hämmernden Bässe französischen Raps. Im nördlichen Banlieu lebend, war die Metro meine Lebenslinie, meine Verbindung zum lichtdurchfluteten Herzen der Stadt, zumindest in Nicht-Lockdown-Zeiten. Ich trug meinen blauen, zu weit geschnittenen Mantel und lief die langen Linien der Stadt ab. Stand im Weg, verstand die unausgesprochenen Regeln der Rolltreppen nicht. Monsieur! Monsieur! Die Maske half, der Winter ebenfalls, meine Form nur noch gerade Striche unter Schals und Pullovern. Ich hörte „Ich bin Linus“ von Linus Giese, dachte mir, dass mir so etwas Schweres wie eine Transition wohl nie gelingen würde, und wurde von meinen Mitpassagieren, die nie einen zweiten Blick auf mich verschwendeten, automatisch richtig gegendert, ohne dass ich mir besonders viel Mühe gegeben hätte. Der zweite Blick – und die Überraschung, die Korrektur – folgten erst an der Supermarktkasse, wenn ich meine Stimme erhob, um in brüchigen Französisch „Hallo“ oder „Danke“ zu sagen. Oh, vous êtes une femme! Schulterzucken, entschuldigend lächeln, den mentalen Facebook-Status auf „Es ist kompliziert“ umstellen, den Song „Paris“ von Hans Unstern hören und hoffen, dass die Außenwelt es schon irgendwie mitbekommen wird.
Es ist wohl so eine Sache mit mir, Passing und Mänteln. Zumindest trug ich auch einen Mantel – diesmal rot statt blau – als ich von einer Gruppe Jugendlichen in meiner Heimatstadt transphob angeschrien wurde, mehrere Jahre bevor ich selbst meine Transidentität realisierte. Ich hätte wohl nicht stehenbleiben dürfen, nachdem sie mir nachriefen: „Bist du ein Mann oder eine Frau?“ Heute würde ich auch nicht mehr stehenbleiben. Aber ich war wohl mal optimistischer, interessierter an sogenanntem Diskurs im sogenannten öffentlichen Raum. Auf der Straße in meiner Unistadt zeigt ein Kind auf mich: „Schau mal, ein Transgender“, sagt es zu seiner befreundeten Person. Nach anderthalb Jahren Hormoneinnahme passe ich also als transgender. Besuche bei mir unbekannten Arztpraxen und Bahnhofstoiletten werden kompliziert, genauso Grenzübergänge und Schwimmbäder, all diese grauweißen Blanko-Situationen, die nach Desinfektionsmittel riechen.
Jetzt wohne ich auf dem Dorf, trage achtzig Prozent der Zeit schlammige Arbeitsschuhe, lasse mir einen schrecklichen Nackenbart stehen und die Mädels vor dem lokalen Döner geben flirty Kommentare ab. Da verziehe ich mich schnell ins Warme und tue so, als würde ich ganz non-chalant auf meinem Handy scrollen. Keine Miene verziehen wie ein echter Kerl. Die Röte auf den Wangen stammt von der Kälte draußen, klar. Ich freue mich nicht, wenn ich passe. Oder ich freue mich doch, aber es ist eher so ein puh, ich hab’s geschafft, ich bin nicht aufgeflogen. Ich könnte so etwas Verklausuliertes schreiben wie „Ich bin ein queerer Untergrund-Agent im nationalen heteronormativen System“, aber was mache ich schon, außer mir jeden Morgen etwas Testosteron auf die Arme zu schmieren? Klar ist das irgendwo auch revolutionär, aber wir wollen’s mal nicht übertreiben. Ich bin mostly binär transmännlich, ich mogele mich durch, gut genug, um nicht diesen gefährlichen zweiten Blick herauszufordern, zumindest, wenn man mich auf der Straße passiert. Im Festzelt beim Erntedankgottesdienst stehen die Dinge schon anders, hinten in der letzten Reihe. Mir fehlt ein gewisses je ne sais quoi. Vielleicht ist mein Outfit doch zu koordiniert, um als normaler Typ durchzugehen. Mein Habitus zu kontrolliert, zu bedacht darauf, gerade zu stehen und die Arme vor der Brust zu überkreuzen. Ein Hauch Androgynität in meiner Stimme beim Singen. Vielleicht sollte ich der freiwilligen Feuerwehr beitreten oder dem Kirchenrat. Zumindest traut sich niemand, etwas zu sagen.
Passing ist eins dieser aufwühlenden Themen in der Community. Was bedeutet Passing überhaupt für nicht binäre Personen? Ist es okay, passen zu wollen, als cis durchgehen zu wollen, oder unterwerfen wir uns damit nur dem oppressiven Willen der Mehrheitsgesellschaft? Oder müssen wir möglichst viel dafür tun, zu passen, um vor Übergriffen geschützt zu sein? Wird Passing verkompliziert durch eine wachsende mediale Sichtbarkeit von trans Menschen?
Wir werden uns noch lange mit diesen Fragen beschäftigen müssen. Meine eigenes Verhältnis zu Passing bleibt indessen vielschichtig; es ist ein Tanz, für den man sich schick macht und dessen Schritte man jahrelang einübt, um dann hoffentlich im überfüllten Saal unterzugehen.