Diana nimmt uns mit in die kalte Jahreszeit. Zwischen Chai und heißer Schokolade zeichnet sie ein feinfühliges Bild ihrer Familie.
Du siehst schön aus, denke ich, würde ich Dir gerne sagen, schaffe ich aber nicht. Ich schaue Dich an, es ist dunkel. Du trägst einen Mantel, es ist Herbst. Ich sehe zum ersten Mal, wie schön Du bist.
Wir sitzen im Wohnzimmer. Oma erzählt, dass ihr Bruder heute Geburtstag hat, er ist der Jüngste unter ihnen. Deda sagt, Oma liegt genau in der Mitte. Ja, sagt Oma, Du hast die goldene Mitte bekommen. Sie sagt ocтaлocь, übrig geblieben„ Deda dreht sich weg, Oma lacht. Es klingt irgendwie immer komisch in meinen Ohren, wenn Oma wegen Deda lacht. Später essen wir und trinken Chai. Deda schiebt seinen Teller zur Seite und schmiert sich ein Butterbrot. Zuerst Butter, viel, auf das Brot, wir haben leider nur Toastbrot. Deda kriegt das Toastbrot ohne Körner, das, das bei uns nur Papa isst. Dann nimmt Deda sich mal Käse, mal Wurst. Auf dem Käsefleischteller liegen zwei Arten Wurst, unser Kühlschrank hätte aber noch mehr Sorten im Angebot, nicht nur Wurst, alles Mögliche an Fleisch, Räucherlachs haben wir leider nicht mehr. Wir haben also zwei Arten Wurst auf dem Käsefleischteller: einmal gekocht, Schinken, glaube ich, oder Speck, ich bin nicht sicher. Runde Wurst, verpackt wie ein Kreis, zwei Würste zu einem offenen Kreis geknotet. Einmal geräuchtert, Salami, die Haut zieht Deda ab. Er legt sie auf Omas Teller, die Haut, nicht die Salami. Oma isst Tiefkühlpizzen im Miniaturformat.
Er fragt, ist das dein Freund?, er sagt ja. Er fragt, bist Du schwul? und er sagt ja. Er sagt cool und schweigt, sagt, das finde ich cool. Er fragt, ob sie ein Paar sind, er lacht, sie sagt nein, er sagt, ich bin mit einem Mann verheiratet. Er sagt, verarsch mich nicht.
Es ist dunkel draußen. Ich mache das Licht an, die Balkontür ist offen, das Fliegengitter zu. Ich schiebe die Schranktür hoch, wir haben moderne Schränke, die nach oben aufgehen, himmelwärts statt zur Seite. Ich schaue die Schüsseln an. Wir haben rote Plastikschüsseln, die ich nie benutze und welche aus Porzellan. Gelb, Orange, Blau und Braun. Eine habe ich mal kaputt gemacht, sie ist mir aus der Hand gefallen, als ich vom Wohnzimmer in die Küche lief. Ich erinnere mich nicht mehr an die Farbe. Ich nehme eine Schüssel, Gelb vielleicht oder Blau. Ich hole das Müsli, schütte es rein. Vielleicht ist schon Joghurt in der Schüssel, ich weiß es nicht. Der Heidelbeerjoghurt vielleicht, den ich so mag. Oder Skyr. Himbeeren oder sowas, ich mag Beeren, am liebsten Brombeeren. Wenn nicht, dann hole ich noch Milch. Hafermilch schmeckt aber scheiße, nur mit Kakao gut. Ich sitze also am Tisch; mit einem Löffel und meiner Schüssel. Vielleicht stehe ich auch noch und kippe das Müsli in die Schüssel. Papa kommt. Er scherzt: Dana, isst Du schon wieder? Vielleicht sagt er noch: Tschuldigung, Diana. Ich bin misnamingempfindlich.
Ich sitze auf der Toilette und tippe ein Gebet in mein Handy.
Es wird Zeit. Der erste Schnee des Jahres fällt und ist verrückt. Wenn ich in den Himmel blicke, sieht es aus, als wäre der Himmel ebenso unendlich wie der Vorrat an Schneeflocken, die mein Gesicht zärtlich streichen und auf meiner Zunge zergehen, wie es sonst nur Schokolade tut. Ich fühle mich entwurzelt, dabei fällt jeder Schritt so schwer, weil so viel an meinen Fersen hängt. Es ist ein ganz merkwürdiges Gefühl. Ich habe mal gelesen, man soll alle paar Jahre seinen Gang wechseln. Ein paar Schritte gehen, ganz bewusst, sodass man fühlt, wie man geht. In welchem Tempo, wie viel man mit einem Schritt zurücklegt. Geht man wippend, mit Elan, ohne Hüftschwung, steif. Der Gang macht doch so viel aus, die Haltung. Nehme ich die Arme beim Gehen mit? Oder vielleicht nur den einen? Wenn wir uns Gedanken über die Art machen, wie wir gehen, werden wir uns dann unserer Freiheit bewusst?
Wir sitzen in einer Kneipe in Berlin-Friedrichshain. Ich habe eine heiße Schokolade bestellt. Wenn ihr sowieso trinken wollt, wieso spielen wir dann darum?
Papa macht das Bad. Er hat erst das Kleine gemacht und jetzt macht er das Große. Er schabt und kniet und schneidet und macht laute Geräusche und ganz leise. Ich lese ein Buch, höre, was er sagt: Кaтacтpoфa. Кaтacтpoфa этo, дa. Er schaut Max an, es klingt wie eine Frage. Max liegt zwischen all den Baustellsachen im Flur auf der Seite und atmet tief. Er sieht müde aus, fast schon depressiv. Papa trinkt einen Schluck Bier. Ich verrecke, mein Gott, wie viel arbeitest Du und arbeitest und arbeitest. Er bückt sich und schmiert Spachtelmasse auf den Boden. Jedenfalls in meiner Vorstellung. Wenn ich ihn frage, ob es Spachtelmasse ist, seufzt er. Du mit Deiner Spachtelmasse.
Wir stehen auf dem Friedhof. Du jagst dem kleinen Jungen hinterher, ihr spielt fangen. Er lacht, Du bist außer Atem. Ich will weinen, ihr seid so schön.