Ein Anruf, der ihr Leben veränderte

2017_05_26
(c) Hamza Butt:  facebook  (CC BY 2.0)

Mila postet selten auf Facebook, private Bilder sind überhaupt nicht auf ihrem Profil zu finden. Doch dann wird ihr Account gehackt und verbreitet bearbeitete Fotos von ihr. Als ihre Mutter ihr davon am Telefon berichtet, ist ihr klar, dass sich ihr Leben verändert…

Das Telefon klingelte, während Mila gerade dabei war, die aktuelle Version ihres Praktikumberichts zum gefühlt zwanzigsten Mal zu überarbeiten – es war wirklich nicht sonderlich nett gewesen, diese Ausarbeitung über die Ferien aufzugeben – aber gut. Jetzt quälte sie sich eben zum hoffentlich letzten Mal durch die allerfeinsten Korrekturen in Sprache und Format ihres zwanzigseitigen Textes.

Das Klingeln ertönte erneut. Wer rief denn jetzt an!? An einem Dienstagvormittag!? Wenn keine Ferien waren, war zu dieser Zeit doch nie jemand zu Hause – das sollten selbst die Werbefuzzies wissen, die sie und insbesondere ihre Mutter ununterbrochen belästigten – und die Mila immer wieder abwimmeln musste. Sie hasste es, diesen Angestellten, die in ihrem pseudofreundlichen Ton und mit ihrer überaus korrekten Wortwahl pausenlos auf sie einredeten, tausend Mal erklären zu müssen, dass momentan niemand anderes als sie zu Hause sei und sie auch ganz sicher sowohl keinen neuen Handstaubsauger oder Türabtreter als auch keine „ultramoderne“ gestreifte Porzellankatze kaufen wolle, bevor sich diese endlich geschlagen gaben und ein erzwungenes „Tschüss! Dann bis zum nächsten Mal!“ herausbrachten.

Gerade jetzt war sie jedoch besonders sauer auf das Klingeln, da das nervige Geräusch sie nun vollkommen aus dem Konzept brachte. Trotzdem machte sie sich schließlich auf die Suche nach dem Telefon – man konnte schließlich nie wissen, ob vielleicht doch auch einmal jemand anderes als nur Firmenvertreter anriefen.

Also rannte sie die zwei Stockwerke nach oben, von woher sie die Tonfolge vernommen hatte, und nachdem sie es schließlich geschafft hatte, auf die grüne Taste zu drücken, kurz bevor der Anrufbeantworter ansprang, rief sie atemlos „Wibekind, Mila; Hallo!?“ in den Hörer.

Mila erkannte sofort, dass es ihre Mutter war, die am anderen Ende der Leitung sprach. Sie kannte keine andere Person, die so laut in ihren Handylautsprecher sprach, wie diese Frau, sodass man bei Telefonaten mit ihr das eigene Telefon mindestens zwei Meter von seinem Ohr entfernt halten musste, um keine irreversiblen Schäden davon zu tragen. Ihre Rechtfertigung: man muss ja schließlich so laut rufen, dass die Worte beim Gesprächspartner ankämen. Naja – wenn man es eben immer noch nicht realisieren kann, wie fortgeschritten die Technik inzwischen ist, muss man sich damit abfinden. Auch dieses Mal dröhnte Mila wieder ein „Hallo!“ entgegen, noch bevor sie fertiggesprochen hatte. Daher war an diesem Telefonat zumindest zu Beginn nichts anders als an jedem anderen – und Mila hatte nicht die geringste Chance zu ahnen, was dieser kurze Anruf für sie noch alles bedeuten würde.

„Hi Schatz! Schau mal bitte auf deiner Facebook-Seite!! Da passiert gerade etwas vollkommen Seltsames. Es geht irgendso eine Nachricht herum mit einem total seltsamen Text. Warte! Ich lese ihn dir kurz einmal vor:

Und dann ist da noch ein Link. Irgendwie postet das dein Facebook-Account gerade auf die Seiten von all deinen Freunden!“

Mila war ein beliebtes Mädchen. Sportlich, schlau, hilfsbereit, selbstbewusst und ganz besonders dickköpfig. Sie war fast überall beteiligt, plante zahlreiche Aktionen, die auf Missstände in der Welt aufmerksam machen sollten – und hatte viele Freunde. Ihre facebook-Liste zählte über 500 – dabei ist anzumerken, dass sie nie jemanden annahm, den sie nicht persönlich kannte, auch niemanden, den sie zwar kannte, bei dem sie aber nicht wusste, was sie jemals mit ihm über facebook kommunizieren sollte. Sie nutzte diese Plattform meistens nur dazu, um auf dem Laufenden zu bleiben, oder andere auf dem Laufenden zu halten. Verwendete sie, um auf Aktionen hinzuweisen, Anhänger und Unterstützer zu gewinnen und Termine und Treffpunkte bekannt zu geben.

Nach einem eigenen Bild von ihr selbst konnte man auf ihrer Seite vergeblich suchen. Stattdessen hatte sie eine Petunie – ihre Lieblingsblüte – als Profilbild, ihr Hintergrund war eine Fotografie aus dem letzten Urlaub, auf dem man nichts sah als Palmen und Meer bis zum Horizont.

Sie hatte nie viel über sich in ihrem virtuellen Profil bekannt gegeben, hatte weder bestätigt, welche Schule sie besuchte, noch ihr wirkliches Geburtsdatum eingetragen. Den „Like“- Button verwendete sie ausschließlich für Aktionen, die von ihrem Gymnasium oder ihren Freunden ins Leben gerufen worden waren und den Beziehungsstatus hatte sie einfach durchgehend auf „Single“ gestellt – was zwar auch stimmte, aber auch wenn sie einmal einen Freund haben würde, sah sie keinen Sinn darin, dies sofort der gesamten Facebook-Welt bekannt zu geben.

Es gab viele Jungs, die auf sie gestanden hatten. Mila war groß für ihr Alter, schlank und sportlich – und ihre dunklen Augen strahlten etwas Geheimnisvolles aus – sie glänzten. Ihre langen schwarzen Haare trug sie meist offen, sodass sie in großzügigen Wellen über ihre Schultern flossen. Nur im Sommer band sie diese zu einem Pferdeschwanz zusammen, wenn es ihr zu heiß wurde und ihre Haare drohten, an ihrem T-Shirt festzukleben.

Sie hatte nie auf Anfragen der Jungs reagiert, rückte ihre Handynummer nur sehr sparsam heraus – sie wollte keinen Freund. Hatte einfach keine Zeit dazu und war sich jetzt schon sicher, dass er sich spätestens einen Monat nach dem ersten Kuss darüber beklagen würde, dass sie bisher immer noch kein einziges Mal mit ihm ins Kino, Schwimmbad, oder ähnliches gegangen war und sie bisher vielleicht gerade einmal zwanzig Sätze persönlich und drei Nachrichten per Handy ausgetauscht hatten – nein! Ein Junge passte in ihren Zeitplan wirklich überhaupt nicht rein – aber diese Einstellung machte sie für viele Jungen nur noch interessanter.

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Am 21.06.2017 traf ein dunkelhaariges Mädchen bei der Polizei ein. Es war hübsch, ihre langen schwarzen Haare fielen in großzügigen Wellen über ihre Schultern, ihre Augen zogen mit ihrem tiefen Braunton den Blick von Tim an, der ihren Fall übernehmen sollte. Doch irgendetwas trog an dem Schein dieses hübschen, jungen Mädchens. Erst auf den zweiten Blick bemerkte er, wie stark ihre Fingernägel abgekaut waren, wie abgemagert ihr gesamter Körper wirkte und wie traurig und verzweifelt ihn die eigentlich so schönen Augen anstarrten. Unterlegt von einem tiefen Schatten der Augenringe, die von schlaflosen Nächten zeugten und umrahmt von einem roten eiförmigen Abdruck, der ahnen ließ, wie oft sie in ihrem Leben schon geweint haben musste. Ihre gesamte Körperhaltung wirkte ängstlich, seltsam in sich geschlossen – einsam.

Als er sie bat, ihm doch bitte zu erzählen, worin ihr Anliegen bestünde, wollte sie sich gar nicht erst setzen. Als sie es letztendlich doch tat, schaute sie sich unruhig um. Ihr Blick schnellte von seiner Ausgangsposition in der Mitte immer wieder ruckartig nach rechts oder links, wenn sie meinte, etwas gehört oder einen fremden Blick im Nacken gespürt zu haben. Ihre Augen immer wachsam und ängstlich. Wurde sie verfolgt!?

Als sie zu erzählen begann, war ihre Stimme so leise, dass sich Tim ein wenig nach vorne über den Tisch beugen musste, um sie zu verstehen. Ihre Stimme war nicht nur leise, sondern auch zittrig, immer wieder stockte sie mitten im Wort und das Mädchen schien andauernd den Faden ihres Berichtes zu verlieren. Tim schaffte es nur einzelne Wortfetzen zu verstehen: Hacker, facebook, Nacktfotos, die nicht ihre waren, PhotoShop, Anti-Gruppe, schon wieder facebook, Neid, Angst, Drohbriefe, Freunde, Feinde, Kommentare, Bilder… . Mehr konnte er nicht entschlüsseln, bevor das Mädchen in Tränen ausbrach.

Mehr dazu:

1999 geboren in Heppenheim, aufgewachsen in Hessen und Baden-Württemberg und inzwischen wohnhaft in Dresden. Deutschland habe ich inzwischen durch viele Hobbies im Bereich Musik, Sport, Poetry Slam und Wissenschaft recht gut kennengelernt, doch noch spannender als die regionalen Reisen sind die vielen Begegnungen und Erlebnisse, die ich dabei gesammelt habe. Mein Testgelände ist eine super Sache, um festzuhalten, was mich auf meinen Reisen bewegt, einige der Personen mit ihren spannenden Geschichten vorzustellen und euch Teil von Recherchen werden zu lassen, die mich brennend interessieren. Hier kann sich jeder trauen, das zu schreiben, was ihn bedrückt. Und somit: Viel Spaß beim Lesen, Hören und Schreiben!