Der folgende Text stammt von unserer Autorin Lilith:
Wer von Ihnen kennt den Weltmädchentag? Preisfrage – wann ist dieser? Genau: am 11. Oktober. Den nächsten Text habe ich geschrieben, als ich mich im Zug des internationalen Mädchentages mit der Ungleichbehandlung zwischen den Geschlechtern beschäftigt habe. Ich habe eine riesige Veranstaltung geplant und mich einfach viel zu sehr in dieses eigentlich so erschreckende Thema hineingesteigert – ja, und was dabei herausgekommen ist, hören Sie jetzt. Der Text heißt ganz einfach nur „Mädchen“.
Ich bin unterwegs, schlendere die Straße entlang – viel zu viele Menschen um mich herum.
Bin unterwegs, schlendere weiter, schaue mich um
– und erkenne ein Mädchen,
Hollister-Top – bauchfrei natürlich, S-Oliver Hose, so kurz, dass ihre Arschbacken gerade noch herausschauen – versteht sich.
Trägt Ohrringe, die länger sind als ihr Hals, sodass sie schon fast ihre Schulter berühren,
Lipgloss – größer gezeichnet als ihr tatsächlicher Mund.
Eine Tasche von Mickle Corse in der einen, einen Geldbeutel von louis vuitton in der anderen Hand.
Ich laufe weiter und schüttle den Kopf.
Sie ist ein Mädchen, vielleicht 12 Jahre alt – noch ein Kind und auch wieder keines.
Sie ist ein Mädchen,
ein Mädchen, das es viel zu einfach hat im Leben,
viel zu einfach, als dass sie noch Ziele haben könnte, nach denen es sich lohnt zu streben,
ihre Eltern besitzen so viel Geld, dass das Konto droht überzulaufen,
wenn sie nicht in die Stadt geht, um sich täglich etwas Neues zu kaufen.
Sie ist ein Mädchen,
das sich für nichts als sich selbst interessiert,
wie von Geburt an vorprogrammiert,
ein Gossip-Girl ohne andere Interessen als Geld, Smartphone, W-Lan, Jungs, Betrug und Intrigen.
Ihr Leben besteht aus stupiden
Beschäftigungen, wie Shoppen, Kino, Schlafen, Essen; Shoppen, Kino, Schlafen, Essen
– ach ja What’sApp benutzen hätte ich fast vergessen,
bei allem darauf achtend ihre neuen Klamotten nicht zu beschmutzen,
zu schauen, dass sie nicht noch weiter verrutschen,
sich möglichst überhaupt nicht anzustrengen,
und den Ausschnitt, den sie von der Welt sieht, noch mehr einzuengen.
Sie schaut zu mir herüber,
schenkt mir einen verachtenden Blick,
ich tue, als bemerkte ich ihn nicht.
Stattdessen schüttle ich verzweifelt meinen Kopf und laufe weiter.
Länger kann man den Anblick einer solchen Person einfach nicht ertragen!
Länger kann man nicht zuschauen, wie sie den Jungs ihrer Clique den Arsch ins Gesicht reckt und unbemerkt ihren BH immer weiter herunterrutschen lässt.
Aber egal – es ist ihr Leben!
Nun laufe ich weiter und beginne, an jemanden anderen zu denken.
Auch sie ist ein Mädchen,
ein Mädchen, das viel zu viel denkt,
ihre Gedanken äußerst selten in die richtigen Bahnen lenkt,
viel mehr lässt sie sie ihr Gehirn umkreisen.
Sie ist ein Mädchen,
ein Mädchen, das sich für wirklich alles und jeden interessiert,
das keine Angst hat, dass es sich ununterbrochen geniert,
nur, weil es etwas Neues versucht – zum aller ersten Mal
das alles Kennenlernen möchte,
alles erleben und die ganze Welt sehen will
– nur um es einmal gewusst zu haben,
das gerne verreist,
auf die Meinung anderer sehr gerne scheißt,
denn es möchte sich seine eigene Meinung bilden.
Sie ist ein Mädchen,
ein Mädchen, das wirklich alles ausprobiert,
es unheimlich hasst, dass alle Welt gegeneinander konkurriert,
da es doch nichts als Spaß erleben will.
Das einkaufen geht im Second-Hand Shop,
nicht, weil ihr Geldbeutel für alles andere zu klein,
sondern, weil sie es interessanter findet,
und auch einmal nachdenkt, bevor die Kasse klingelt.
Sie ist ein Mädchen, das gerne lacht,
dessen Augen zu einem kleinen Feuer entfacht
werden,
wenn man sie auch nur ein bisschen erwärmt,
ein Mädchen, das unheimlich gerne lernt,
Ein Mädchen, das sehr viel Liebe erfährt,
der nichts, wirklich nichts richtig Schlimmes wiederfährt,
wenn es sich an einige Regeln hält.
Sie ist das Mädchen,
das sich für andere einsetzt,
deren Hilfe mindestens genauso sehr schätzt,
denn Kooperation wird bei ihr großgeschrieben.
das versucht, sich wirklich für andere einzusetzen,
zu verhindern, dass die Welt aufhört jeden wirklich jeden zu verletzen –
interessiert, garantiert übermotiviert, ungeniert, mit Zuversicht, Glück und Mut vollgeschmiert, jedoch unverziert aufpoliert, ist, ist sie….machtlos.
Sie ist ein Mädchen,
ein Mädchen das viel zu viel denkt.
Ihre Gedanken wirklich nie in die richtigen Bahnen lenkt,
und fantasiert – wirklich viel zu viel.
Sie ist ein Mädchen,
ein Mädchen, das sich einbildete, sie könne die Welt verändern,
bis sie alt genug dazu war, nicht mehr zu naiv zu sein.
Ich denke an ein Mädchen,
ein Mädchen, das nicht weiß, was mit ihrem Leben anzufangen,
nichts kann ihr wirklich halt geben,
aus Hunger und Not – hat es keine Zeit an etwas anderes zu denken
– und kann niemandem mehr als ihre Arbeitskraft schenken
– auch wenn sie es selbst viel zu wenig findet.
Ich denke an ein Mädchen,
ein Mädchen, das sich um ihre kranke Mutter kümmert,
und dabei zusieht, wie sich nur alles verschlimmert,
und alles verflimmert vor ihren tränenden Augen,
nur, um gleich wieder aufzustehen – sie braucht doch die Zeit – darf keine Pausen machen. Hat keine Zeit dafür zu trauern, und weinend am Bett ihrer sterbenden Mutter zu sitzen,
muss arbeiten, helfen, die Familie versorgen,
versuchen all die vielen Sorgen
– abzulenken von ihrer Welt – die zwar nicht sie hat bestellt,
aber sie trotzdem lernt, mit ihnen umzugehen, um weiterhin sicher im Leben zu stehen.
Ich denke an ein Mädchen,
ein Mädchen, das nicht zur Schule gehen darf, obwohl es so gerne möchte.
Keine Chance auf Bildung, statt Schulbesuch Hochzeit – wirklich kein kleinster Anspruch auf die Erfüllung irgendeines ihrer Rechte.
Denke an ein Mädchen, das keinerlei Chance auf ein besseres Leben vor sich sieht,
Geschwister versorgen, kochen, Landwirtschaft – ihr Vater lange ausgeflogen – und sie schiebt,
alleine die Arbeiten des Tages vor sich her.
Ich denke an ein Mädchen,
ein Mädchen, in nichts als Kleidung gehüllt.
Von nichts als Angst vollkommen ausgefüllt;
Angst vor der Arbeit, vor Krankheit und Tod,
dass sie stirbt in der größten Not –
ihrer Familie, die ohne sie überhaupt niemanden mehr hat,
der ihnen abends ein Feuer entfacht.
Ich denke an ein Mädchen,
ein Mädchen am Ende ihrer Kräfte. Ein Mädchen, mit einem Krug auf dem Kopf.
Ein Mädchen, das Wasserholen gehen möchte – es ist heiß, viel zu heiß,
sie hat Durst, nichts als Durst.
Ich denke an ein Mädchen,
ein Mädchen, dessen Körper nicht mehr mitspielt, dessen Psyche sich verabschiedet
von einem Moment auf den anderen –
denke an ein Mädchen,
das tot liegt im ewigen, viel zu heißen Sand – der leere Wasserkrug liegt neben ihrer linken Schulter.
Ich denke zurück an ein Mädchen,
ein Mädchen, das dachte, sie könnte die Welt verändern,
etwas bewirken, irgendetwas verbessern
doch alles Illusion – verpufft im Nichts.
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"Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann; und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."
(Gelassenheitsspruch)
„Wohl dem Menschen, wenn er gelernt hat, zu ertragen, was er nicht ändern kann, und preiszugeben mit Würde, was er nicht retten kann.“
– Friedrich Schiller, Über das Erhabene (Essay)