Wir freuen uns über einen neuen Text von Mare! Sie schreibt über die Regenbogenflagge. Das hat sie für meinTestgelände 2017 schon einmal getan. Was hat sich seitdem verändert? Was bedeutet es, dass wir die Regenbogenflagge immer häufiger sehen, dass sich Unternehmen, Produkte, Organisationen und ganze Staaten damit schmücken? Ist die Welt dadurch ein sicherer, ein besserer Ort für LGBTQIA+-Personen geworden? Viel Spaß beim Lesen!
Es ist der 23. Juni 2021. Die deutsche Nationalmannschaft spielt gegen Ungarn in der Münchener Allianzarena. Aus Protest gegen die queerfeindliche Politik Orbáns und aus Trotz gegen die Entscheidung der UEFA, das Münchener Fußballstadion nicht in Regenbogenfahnen erstrahlen zu lassen, zeigen sich viele deutsche Städte solidarisch und wehen Regenbogenflaggen. Auch Social Media wird geflutet von regenbogenfarbenen Profilbildern und Posts. Mit dabei: Die UEFA selbst.
Vor vier Jahren schrieb ich bereits einen Beitrag auf meinTestgelände zu der Regenbogenflagge. Ich schrieb damals, dass sie vor allem eine Sache für mich bedeutet:
„Stolz. Stolz auf uns. Stolz auf den Mut, man selbst zu sein. Stolz auf die Menschen, die trotz aller Widerstände Rechte und Räume erkämpft haben. Stolz, dass wir einen Ort haben, an dem wir weinen können, uns gegenseitig halten können und dass dabei eine Flagge auf unserer Schulter liegt, die keinem Staat gehört, sondern uns.“
Diesen Beitrag hatte ich damals zum Jahrestag des Anschlages auf den queeren Nachtclub Pulse in Orlando geschrieben. Es war ein Ereignis, das mich und viele um mich herum zutiefst erschütterte. Viel hat sich seitdem verändert, in der Welt und in meinen Einstellungen. Einige Sachen zum Positiven, einige zum Negativen und einige Sachen, die ich noch nicht einordnen kann.
„Pinkwashing“ ist in den letzten Jahren ein Begriff geworden, der immer mehr auf Social Media und unter Aktivist*innen herumgeistert. Laut Wikipedia bedeutet das Wort „Strategien, die durch das Vorgeben einer Identifizierung mit der LGBT-Bewegung bestimmte Produkte, Personen, Organisationen oder Staaten bewerben, um dadurch modern, fortschrittlich und tolerant zu wirken.“
Immer öfter höre ich diese Kritik: Firmen wollen nur unser Geld und zeigen deshalb die Regenbogenflagge, aber zeitgleich unterstützen sie homophobe Regierungen, wenn es für sie profitabel ist. Das Beispiel der UEFA ist dafür sehr anschaulich.
Ein anderes Wort ist vor allem im Zuge des Ungarn-Deutschland-Spiels auch häufiger gefallen: Homonationalismus. Vereinfacht gesagt bezeichnet dieser Begriff eine Kombination aus Nationalstolz und pro-queeren Einstellungen. Einige Beispiele, die ich in den Tagen vor besagtem Länderspiel selber gesehen habe:
Politiker*innen, die noch ein paar Wochen vorher gegen das Selbstbestimmungsgesetz für trans* Menschen gestimmt haben, aber sich selber auf die Schulter klopfen „weil sich Deutschland so offen und fortschrittlich zeigt!“
Leute, die sagen, wie toll doch Deutschland ist und ungarischen Personen Gewalt wünschen für die Taten ihrer Regierung, ohne dabei zu bedenken, dass es die (queeren) Menschen in Ungarn sind, die am meisten unter seiner Politik leiden.
Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, die maßgeblich an der Abschottung der „Festung Europas“ arbeitet und zum Massensterben im Mittelmeer beiträgt, veröffentlicht einen Post in Regenbogenfarben. Das zähle ich auch dazu, denn europäischer Patriotismus gehört genauso auf die Liste hier.
Hat sich also die Regenbogenflagge verkauft und ist, wie einige behaupten, nur noch ein Werbe- und Propagandamittel? Die Sache ist kompliziert.
Genauso wie sich Leute über diese Entwicklung beschweren, gibt es auch Menschen, denen es schwerfällt, Pinkwashing als ein Problem zu sehen. Ein Tweet ist mir dabei vor allem in Gedächtnis geblieben. „In meinem Land wird man verprügelt, wenn man eine Regenbogenflagge vom Balkon hängen lässt, und Europäer beschweren sich, wenn Unternehmen Regenbogenflaggen benutzen? Wisst ihr, wie viel ich dafür geben würde, in so einem Land zu leben?“
Außerdem ist es einfach, auszublenden, was für Prozesse in den Unternehmen an sich stattfinden. Oft sind es Mitarbeitende, die selber queer sind, die von innen heraus versuchen, positive Veränderungen zu bewirken. Natürlich ist Doppelmoral und heuchlerisches Verhalten von Unternehmen und Staaten zu kritisieren, aber dass queere Menschen überhaupt als Zielgruppe für Marketing und Propaganda gesehen werden, ist, so paradox es auch scheinen mag, ein immenser Fortschritt. Wir als queere Community dürfen nicht vergessen, wie weit wir eigentlich in den letzten Jahren gekommen sind und wie sehr wir noch vor einigen Jahren an den sozialen Rand gedrängt wurden.
Im Endeffekt sehe ich die Dinge so: Queer sein ist für mich nicht primär eine Identität, sondern eine politische Forderung, und die queere Community ist für mich vor allem eine politische Gemeinschaft. Das klingt vielleicht im ersten Moment merkwürdig, aber was ich damit meine ist, dass wir in unserer jetzigen Welt, die noch voller Hass, Verfolgung und Diskriminierung gegen queere Menschen ist, vor allem zusammenkommen, weil wir Forderungen an die Gesellschaft und die Politik haben, die wir noch nicht erfüllt sehen. In einer Welt komplett ohne Queerfeindlichkeit gäbe es vielleicht noch Labels wie „lesbisch“ oder „nicht-binär“, aber würden wir wirklich eine Community brauchen?
Die Regenbogenflagge ist für mich also eine politische Flagge, die mit politischen Forderungen verbunden ist. Eine Flagge, wie ich schon 2017 schrieb, „die keinem Staat gehört, sondern uns“. Aber was bedeutet sie jetzt? Für mich steht sie dafür, dass Menschen ein Recht darauf besitzen, frei von Diskriminierung leben und lieben zu dürfen, wie sie möchten. Das bedeutet für mich, dass jeder Mensch ein Anrecht darauf besitzt, dass seine*ihre Menschenrechte geachtet werden, und dazu gehört, dass Geschlechtsidentität und Sexualität frei ausgelebt werden dürfen.
Klingt erstmal ganz nett. Jetzt kommt aber der Haken: Wenn die Regenbogenflagge eine politische Flagge ist, dann heißt das, dass sie keine feste Bedeutung hat, sondern ihre Bedeutung in gesellschaftlichen Prozessen immer neu ausgehandelt wird. Ein Beispiel: Wofür steht Deutschland? Wofür sollte Deutschland stehen? Je nach politischer Einstellung kriegt man auf diese Frage unterschiedliche Antworten, und wofür im Endeffekt die Deutschlandfahne steht, ist kein festes Ergebnis, sondern verändert sich auch danach, wie genau die Diskussion darum in einem spezifischen Moment aussieht, und wen man fragt. Für die Regenbogenfahne also heißt das, dass die eigentlich wichtige Frage ist: Was will ich, wofür die Regenbogenflagge steht, und wie setze ich das um? Das ist eine offene Frage, auf die ich auch kein abschließendes Ergebnis präsentieren kann, sondern nur meine eigene Meinung.
Zusammenfassend also: Wenn wir Pinkwashing und Homonationalismus kritisieren, dürfen wir nicht vergessen, dass die bloße Existenz dieser Phänomene ein Zeichen dafür ist, wie weit wir als Bewegung schon gekommen sind. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch laut in unseren Taten und Worten dafür einsetzen, dass die Regenbogenflagge eine Bedeutung besitzt, die es wert ist zu unterstützen, und nicht von Bewegungen vereinnahmt wird, die versuchen, ihre Bedeutung zu verändern.
Für mich persönlich heißt die Flagge: Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit, nicht nur unabhängig von der Sexualität und Geschlechtsidentität, sondern auch von Herkunft, Hautfarbe, Religion und sozialer Herkunft. Und das versuche ich nicht zu vergessen, wenn ich die Regenbogenflagge wehen lasse.
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