Der Marsch

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Frank Busch / Unsplash

„Meine Jungs sind Kiesel im Atlantik. Meine Jungs werden in zwei Millionen Jahren als Sand an die Deiche gespült.“ Wie es dazu kommt? Das lest ihr heute in einem neuen Text unseres Autors Anton August Dudda. Lyrik oder Prosa? Fiktion oder Realität? Gar nicht so leicht herauszufinden. Wer sind „seine Jungs“? Wohin führt sie der Marsch? Findet es selbst heraus:

Eins, zwei, drei, vier.

Meine Jungs marschieren durch die Gassen, gleich im Schritt und schweren Fußes. 

Eins, zwei, drei, vier. 

Die Leute gucken, doch meine Jungs gucken nicht zurück, meine Jungs gucken sich nur immer gegenseitig ins Gesicht, wenn einer singt, singen die anderen mit, wenn einer lacht, lacht der ganze Trupp. Meinen Jungs gehören all diese Häuser, diese Straßen und die Leute. Eigentlich. Eigentlich gehört uns all das, sagen meine Jungs im Chor.

Eins, zwei.

Meine Jungs sind bei mir.

Drei, vier.

Ich fühle mich frei, hier bei meinen Jungs. Denn solange ich bei meinen Jungs bin, wird mir alles verziehen. Solange meine Jungs bei mir sind, darf ich tun, was ich will. Denn es sind meine Jungs, die bestimmen über richtig und falsch, denn meine Jungs sind die Anarchisten, die Politiker, die Faschisten, die Polizisten, die Manager und Fußballer. Meine Jungs können alles sein, wenn sie es nur wollen, denn meine Jungs können sich nur selbst im Wege stehen.

Eins, zwei, drei, vier.

Kein Mensch traut sich, meine Jungs aufzuhalten. Der Ruf nach Freiheit, den meine Jungs ausstoßen und der sich wie ein Echo von Körper zu Körper wirft, sich tausendfach multipliziert, kann Lawinen auslösen, Berge zum Wanken und Zivilisationen zum Einsturz bringen. Meine Jungs kennen nur das Vorwärts, meine Jungs sind das Blut und das Fleisch, der Kolben und das Motoröl, sie sind eine gewaltige Erfindung von sich selbst, gebaut, um sich zu vereinen, gebaut, um zu erschaffen, gebaut, um zu herrschen, gebaut, um zu zerstören.

Eins, zwei, drei, vier.

Der Takt, zu dem meine Jungs marschieren, ist der Klang ihrer Schuhe auf dem Asphalt. Er kann nicht langsamer werden, er ist wie ein Rausch. Wie Vögel im Schwarm, wechseln meine Jungs sich ab in der ersten Reihe, um den anderen ihren Windschatten zu geben, unter meinen Jungs wird niemand ausgegrenzt. Meine Jungs grenzen mich nicht aus. Wenn meine Jungs die Grenzen der Stadt erreicht haben, dann marschieren sie weiter. Sie reißen Schneisen in die großen Wälder, fressen alles was sie finden können. Hinter meinen Jungs ist verbrannte Erde. Niemand kann meinen Jungs folgen.

Eins, zwei, drei, vier.

Meine Jungs sind so schnell, unter ihren Schritten vibriert das Gestein und bricht entzwei, ein paar meiner Jungs geraten aus dem Gleichgewicht, fallen über das lockere Geröll, schlagen sich die Schädel auf, brechen sich die Beine, doch der Sog zieht sie unerbittlich mit, meine Jungs lassen niemanden zurück, egal wie er auch darum betteln mag.

Eins, zwei, drei, vier.

Ich gehe mit meinen Jungs durch Dick und Dünn. Ihr Blut klebt an meiner Kleidung, mein Blut klebt an ihren Schuhen. Wir alle haben unser Blut auf der Zunge, schmecken uns gegenseitig wie entzündetes Zahnfleisch. Das Blut meiner Jungs schmeckt nach Salz und nach Eisen, das Blut macht meine Jungs so schnell wie nie.

Eins, zwei, drei, vier.

Der Blutrausch meiner Jungs treibt sie an, bis zu den höchsten Bergen, höher noch, der höchste Gipfel ist nicht hoch genug für meine Jungs. Unter meinen Jungs rollen die Steine aufwärts, fließt das Wasser in den Himmel, fällt der Schweiß meiner Jungs als Regen auf sie herunter. Meine Jungs glauben an sich, sie müssen sich nicht beweisen. Meine Jungs sagen, wo es langgeht.

Eins, zwei, drei, vier.

Das Land der Erde hat sich verformt zu einer Himmelsleiter, auf allen sieben Kontinenten marschieren meine Jungs empor, die Welt unter ihnen nichts mehr als ein Ball aus Wasser und über ihnen, Nichts. 

Eins, zwei, drei, vier.

Die letzte Stufe ist erreicht und einer nach dem anderen fallen meine Jungs ins Bodenlose. Ihre Marschfüße strampeln hilflos in der Luft. Wie die Käfer nicht gemacht sind, auf dem Rücken zu liegen, so sind meine Jungs nicht dazu gemacht, zu fallen. Meine Jungs lachen. Lachen aus tausenden Kehlen, bis ihre Körper auf dem Salzwasser aufschlagen und in mehr Einzelteile zerspringen, als man zählen könnte.

Eins, zwei, drei, vier.

Meine Jungs sind Kiesel im Atlantik. Meine Jungs werden in zwei Millionen Jahren als Sand an die Deiche gespült.

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  • Für den Fall, dass ihr den ersten, großartigen Text von Anton verpasst haben solltet: Hier entlang!

Ich bin Anton, studiere Szenisches Schreiben an der UdK in Berlin und habe in meinen früheren Twenties einen Bachelor in Philosophie gemacht. Hier versuche ich, über das Teilen von Erfahrungen und spekulatives Erzählen, an so etwas wie einer positiven Vision von Maskulinität zu forschen.